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Hier meine deutsche Übertragung, aus dem Band «Brief in die Oase», den ich zum 10. Todestag Joseph Brodskys 2006 herausgegeben habe:

                   Anmerkungen eines FarnsGedenke meiner,flüstert der Staub.Peter Huchel

An der Position des Bauem errätst du den König.Am Streifen Land in der Feme — dass du auf dem Schiff                                                                  stehst seit ewig.An den satten Noten in der Stimme der zarten Freundin im Hörer —dass ein Nachfolger da ist: Student? oder Chirurg?Ingenieur? Am Namen der Bahnstation — Einsamburg —dass es Zeit ist auszusteigen, das Ei aus der Schale zu befördern.

In jedem von uns sitzt ein Bauer, ein Spezialistfür Wetterprognosen. Etwa so: ein Herbstblatt istfällt es vornüber aufs Gesicht, ein Missemtesignal. Das Orakelist nicht besser kommt zu dir im Regenmantel das Gesetz:deine Tage sind gezählt — vom Richter, oder anders jetzt —bleibt dir ohnehin wie man sagt nur noch ein Katzenkrakel.

Was denn, die Natur wird uns unsere Merkmale doch nicht nehmen.Ein Cherub — der mag vielieicht nicht wissen von wegenvorn und hinten. Anders der Mensch. Der Helle hatüberall die Perspektive dass er aus dem Gesichtsfeldkippt. Und hört er eine Glocke an sein Hörorgan flitzenso schlägt die ihm: man säufl man sticht man gibt den Teller ab.

Deshalb besser: keine Angst! Die zarten Linien in der Hand,die rosa Ziffer die auf dem Trolleybus-Schildchen tanztplus der Effekt der Stukkatur im Zimmer von Belsazarbestätigen nur dass leider-leider das Schicksalweniger Varianten hat als Opfer; dass ihr nichts alsein Restchen habt und am ehesten so endet wie die Wahrsager —

Zigeunerin eurer Nachbarin sagte, Bruder, Schwester, Fraueures Freundes nur nicht euch. Die Feder kratzt im stillen Raumin dem etwas wie «nach dem Tod» haust, umgekehrt wie                                                         Klubtänze klingendso sehr ist die Stille ohrenbetäubend; eine Art Anti-Beschuss.Im übrigen heißt das alles schlicht: so alt bist du dassder Wurm müde wird sich im Schnabel zu ringeln.

Der Staub setzt sich sommers auf die Dinge wie winters der Schnee.Ein Verdienst der Oberfläche, der Flachheit. Von ihr aus wehtdiese Tendenz nach Oben: zum Staub oder Schnee. Odereinfach zum Nichtsein. Und etwas wie «vergiss mich nicht»flüstert der Staub zur Hand mit dem Lappen; schließlich flichtder das Flüstem des Staubs in seine feuchten faltigen Ohren.

An der Wucht der Verachtung errätst du: neue Zeiten.Am Flimmern des Sterns — dass das Mitleid leiderabgeschafft ist als Rückzug der Energie: gedrosselter Wärmeoder dann als Signal dass es Zeit wird für einen selbstdie Lampe zu löschen; das Kratzen der Feder in der Stille hältstdu für den Versuch in Kleinschrift die Angst zu verlernen.

Vernehmt diese Reden als den Gesang des Wurms,nicht als Sphärenmusik, nicht gedacht für die Jahrhun —derte. Gedämpfter als ein Vögelchen aber voller tönendals der Singsang des Hechts. Was schon nahist wird kein Tiirschloss stoppen. Doch Schlimmes kann jadem Schlechten nicht zustoßen, und Furcht vor Tautologie                                                      ist Garantie für Wohlergehen.[242]

Worum das geheimnisvolle Gedicht kreist, wird in der 2. Strophe explizit: das Orakel. Um Zukunftsdeutung geht es hier, um die seit Urzeiten von den Völkern praktizierte Mantik, die Wahrsage — und Seherkunst. Und auch der mysteriöse Farn im Titel weist in dieselbe Richtung.

* * *

Farne sind lebende Fossile, die sich seit Hunderten von Millionen Jahren kaum verändert haben. Sie zählen zu den ältesten Pflanzen auf der Erde, waren im Karbon vor 350 Millionen Jahren die vorherrschende Landpflanze. Farne blühen nicht, bilden weder Samen noch Früchte, weshalb sie dem Menschen jahrtausendelang ein Rätsel waren.

Ein Kraut, das nicht blüht und sich trotzdem vermehrt? Die Menschen umgaben diese Pflanze seit je mit einer geheimnisvollen Aura, ihr wurden übematiirliche Kräfte zugeschrieben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts lüftete der deutsche Botaniker Wilhelm Hofmeister (1824–1877) das Geheimnis der kleinen braunen Punkte auf der Unterseite der Farnwedel. Es sind Sporenkapseln, die bei trockenem Wetter aufreißen und die Sporen herausschleudem.

In der Geschichte des Aberglaubens schrieb der Farn ein gewichtiges Kapitel. Die Menschen glaubten, der Farn blühe nur in der Johannisnacht (24. Juni), der Nacht der Sommersonnenwende (Iwan Kupala bei den Slawen), die ohnehin ein Zeitraum für Magie und sonderbare Rituale war. Wem es in dieser Nacht gelang, den «Farnsamen» einzuholen, der gewann übematiirliche Zauberkräfte. Farn sollte unverwundbar machen, vor Blitz und Hagel schützen, Dämonen und Hexen fernhalten. Als Glücksbringer im Spiel und in der Liebe gait er, im Geldbeutel sorgte er dafür, dass dieser nie leer wurde, er verhalf zu Wohlstand und Reichtum. Mit Hilfe dieses (vermeintlichen, fiktiven) «Farnsamens» konnte man die Tiersprache verstehen, verborgene Schätze finden, sich unsichtbar machen. Shakespeare spielt in «Henry IV» (1. Teil, 2. Akt, 1. Szene) auf diesen Volksglauben an: «We have the receipt of fern-seed, we walk invisible».

Die giftigen Farne waren berüchtigtes Hexenkraut. Der Aberglaube um sie war so groß, dass Herzog Maximilian I. von Bayern im Jahre 1611 und das Konzil von Ferrara 1612 das Einholen von «Farnsamen» unter Strafe stellten. Im «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens» hat der Farn reiche Spuren hinterlassen, und Jacob Grimm schreibt in seiner «Deutschen Mythologie» (II, 1012 f.):

…wer farnsamen holen will, muss keck sein und den teufel zwingen können. Man geht ihm auf Johannisnacht nach vor tagesanbruch, zündet ein feuer und legt tücher oder breite blätter unter das farnkraut, dann kann man seinen samen aufheben. Manche heften blühendes farnkraut über die hausthüre, dann geht alles gut… der farnsamen macht unsichtbar, ist aber schwer zu finden, denn nur in der mittsommemacht von zwölf bis eins reift er, und fällt dann gleich ab und ist verschwunden.

Bei diesem starken Bezug zur Magie erstaunt es nicht, dass Farnwedel bei Kelten, Angelsachsen und Slawen auch zur Zukunftsdeutung herangezogen wurden — allerdings in schriftloser Zeit, weshalb uns die Details der Deutung ein Rätsel bleiben müssen. Anhand der feinen Verästelungen, Kräuselungen, bizarren schneckenartigen Blatt-Einrollungen des Farnkrautes versuchten Druiden und Schamanen, Heiler und Hexer die Geheimnisse der Zukunft zu enthtillen. Das geheime mathematische Potential des Famkrauts wird sich sehr viel spater, nämlich in unserer Zeit, in Benoit Mandelbrots «Chaostheorie» wiederfmden.

* * *

Das Zauberkraut des Farns macht also unsichtbar, und unsichtbar bleibt in Brodskys Gedicht das Farn-Motiv nach seiner Erwähnung im Titel. Doch der Gedichttext umspielt, ironisiert und parodiert Orakelsprüche und alte Praktiken der Weissagung. Seien es simple Bauern — oder Wetterregeln (Anfang 2. Strophe), sei es die traditionell von Zigeunern praktizierte Handlesekunst, die Chiromantie (Übergang 4. / 5. Strophe), sei es eine alttestamentarische Weissagung, das Menetekel auf der Wand beim letzten babylonischen König Belsazar (3. Strophe), das beim Propheten Daniel (5, 25–30) geschildert wird. Auf die babylonische Praxis des Sterndeutens, die Kunst der Chaldäer, wird in der 7. Strophe angespielt: «Am Flimmern des Sterns — dass das Mitleid leider abgeschafft ist…»

Selbst das alte griechische Orakel in Delphi, das aus der Stimme brach, aus der Stimme der auf dem Dreifuß über einer Erdspalte sitzenden Pythia, ist präsent in der parodistischen Version der «zarten Freundin» der 1. Strophe, in deren Stimme vorausklingt, dass das Ende der Liebe kommen wird, dass ein Rivale da ist. Delphi als Hauptort des Orakels: Brodsky wird seiner eigenen freien Übersetzung des Gedichtes ins Englische den Titel «North of Delphi» geben. Auch die Sibylle ist allem zuvor Stimmgewalt, die Räume und Zeiten durchdringt und überspringt, wie es uns ein Fragment des Heraklit von Ephesos nahelegt:

Die Sibylle, die aus rasendem Mund Ungelachtes,Ungeschminktes und Ungesalbtes ertönen lässt,reicht mit ihrer Stimme durch tausend Jahre,denn so treibt sie der Gott an.

* * *

Ob als verballhomtes Delphi-Orakel, ob als babylonisches Stemdeuten oder biblisches Menetekel, ob als Bauern — und Wetterregel, als zigeunerische Handlesekunst oder urtümliche Deutung der Verästelungen des Farnkrauts: Der allgemein-menschliche — und hilflose — Versuch einer Zukunftsvorhersage, der bei zahllosen Völkern beharrlich unternommen wurde, bezeichnet das zentrale Geschehen in diesem Brodsky-Gedicht, auch wenn der postmoderne Dichtersich dem Gegenstand ironisch-parodistisch nähert.

Der Dichter selber ist das archaische «Farnkraut», das hier seine «Anmerkungen zur Zukunft» macht. Er ist selber ein Instrument der Zukunftsdeutung, ein später Vertreter der alttestamentarischen Propheten, auch wenn er die hehre Instanz noch so parodistisch bricht. Damit wird ebenso der Ursprung der Poesie aus der Magie, aus den Zaubersprüchen beschworen wie die uralte Verbindung von Poesie und Orakel. Der Gott der Poesie und der Gott des Orakels ist ein und derselbe: Apollon.

Dieses «Farnkraut» namens Brodsky kennt das Resultat aller Zukunft von allem Anfang an, wenn er die Verfahren der Mantik ironisch bis sarkastisch einander ablösen lässt. Er kennt die «Perspektive», die auch in anderen Gedichten der Spätzeit Brodskys aufblitzt, das Ziel und Ende eines jeden Menschenlebens: Du wirst sterben. In der leicht saloppen Version der 3. Strophe: «Der Helle hat / überall die Perspektive dass er aus dem Gesichtsfeld / kippt. Und hört er eine Glocke an sein Hörorgan flitzen / so schlägt die ihm: man säuft man sticht man gibt den Teller ab» («Человеку всюду / мнится та перспектива, в которой он / пропадает из виду. И если он слышит звон, / то звонят по нему: пьют, бьют и сдают посуду»).

Dass diese Perspektive universal gültig ist, besagt gerade das verschlüsselte Zitat der Totenglocke, die bei einem von Brodskys Lieblings-dichtem auftaucht — bei dem «metaphysical poet» John Donne (1572–1631), den er nicht nur in der «Großen Elegie für John Donne» von 1963 würdigte, sondern auch ins Russische übersetzte. Im Anhang zu seinem ersten autorisierten Gedichtband «Haltestelle in der Wüste» («Остановка в пустыне», New York, 1970) finden sich vier Übertragungen von Gedichten John Donnes.

Das Zitat der Totenglocke, das schon Hemingway für den Titel seines Romans «For Whom the Bell Tolls» («Wem die Stunde schlägt») sich aneignete, findet sich in der 17. Andacht des 1623 entstandenen Andachtbuches «Devotions» von John Donne:

No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the Continent, a part of the Main; if a clod be washed away by the Sea, Europe is the less, as well a Promontory were, as well as if a Manor of thy friends or of thine owne were; any mans death diminishes me, because I am involved in Mankind; And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.

Kein Mensch ist eine Insel, ein Ganzes in sich selbst; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil der weiten Erde; wenn ein Erdklumpen weggespült wird vom Meer, ist Europa geringer geworden, genau wie wenn es ein ganzer Vbrsprung, das Haus deiner Freunde oder dein eigenes wäre; der Tod eines jeden Menschen vermindert mich, denn ich bin verflochten mit der Menschheit; und darum schick beim Totengeläut keinen aus, zu fragen, wem die Stunde schlägt; denn sie schlägt dir.

Noch im vulgarisierten Zitat ist die Perspektive klar. Keinerlei Orakel, keinerlei hilflose Versuche ausgetüftelter Zukunftsdeutung können es verdecken: Am Schluss steht der Tod, dein eigener Tod. Staub, Tod, Stille — darauf geht die Aussicht in diesem Gedicht. Ein Unikum im Wferk Brodskys: Es tragt ein Epigraph von einem deutschen Dichter, Peter Huchel (1903–1981), aus dem Gedicht «Die Engel» (im Band «Gezählte Zeit», 1972)[243].

* * *

Die Praxis der Zukunftsdeutung ist so universal wie die allgemein-menschliche Angst vor dem Tod, vor dem Sterbenmüssen. In Brodskys langem Gedicht «Gesprach mit dem Himmelsbewohner» («Разговор с небожителем») von 1970, wo der Sprechende sich nicht scheut, sich zum modemen Hiob zu stilisieren, heißt es in der 19. Strophe klar:

                           Ну что же, рой!           Рой глубже и, как вырванное с мясом,          шей сердцу страх пред грустною порой,                      пред смертным часом.

                              Na also, grabschon! grab tiefer! Nur samt dem Fleisch herausgerissen            näh ins Herz die Angst als deine Naht,                die Angst vorm Sterbenmüssen.[244]

Und gleich in der folgenden Strophe, ganz ähnlich wie in dem zwei Jahrzehnte später entstandenen Gedicht «Anmerkungen eines Farns»: «Die Perspektive des Sterbens / steht immer offen dem Auge» («раз перспектива умереть / доступна глазу»).

Das Besondere des Brodsky-Gedichtes «Anmerkungen eines Farns» liegt aber darin, dass es nicht nur die Verfahren der Zukunftsdeutung parodiert, sondern auch Strategien entwickelt und Empfehlungen gibt, wie dieser vemichtenden Aussicht begegnet werden könnte. Der postmoderne Prophet sagt nicht nur die Zukunft voraus und formuliert die Perspektive des Todcs, sondern gibt Anleitungen, Ermahnungen. Sie sind das Wesentliche in diesem Gedicht. Und nicht die Zukunft. Denn der Zukunft gegenüber war Brodsky zutiefst misstrauisch gestimmt. Das Gedicht «Vertumnus» («Вертумн») von Dezember 1990 spricht eine deutliche Sprache:

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