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DER VORHANG ÖFFNET sich zur kleinen Bühne, auf der es zu schneien beginnt. Blutrot ist die Bühne in glänzenden Stoff gehüllt. Als blickte ich in den aufgerissenen Mutterbauch, die Mutterhöhle. Der Ledermantelmann fährt vor. Ich höre den Ton seines Fahrzeuges von hinter der Bühne her. Das Geräusch hat sich über die Jahrzehnte allmählich von dem eines Motorrades zu dem einer Limousine verändert. Eine dreistufige Steintreppe, auf ihr drei Krankenschwestern stehend, wird von kräftigen Bühnenarbeitern vor die Hausfassade geschoben. Der wuchtige Ledermantelmann, bis zu den Waden in schweres Leder gehüllt, tritt auf und zieht diesen kleinen Jungen hinter sich her, der vier Jahre alt ist. Ich werde vom Ledermantelmann vor das Heim geführt, vor dem ich erst wieder dreiunddreißig Jahre später, nur wenige Monate nach dem Fall der Mauer in Berlin, so neugierig und fassungslos stehe. Wie eine Ware angeliefert. Ich gehe an der Hand des Ledermantelmannes, der ein Berg ist, dessen Gipfelkopf ich nicht sehe, wie sehr ich mich auch mühe, mir den Hals verrenke. Er zieht mich nach, schleppt mich im Tau, betätigt nicht einmal eine Klingel. Ihm wird die Tür aufgetan, bevor wir auf der Treppe sind.
Der Ledermantelmann wünscht den Frauen einen schönen Tag. Ich will nicht sehen müssen. Ich dränge mich hinter den Ledermantelmann, der ein Etui zückt, in dem sich Tabak und Papier befinden, woraus er sorgsam eine Zigarette dreht. Drei Frauenstimmen vereinen sich zum Sprechgesang. Ein dominantes, zentrales Singen, umweht von zwei unterwürfigen Tonlagen, die sich einklinken, der Vorsängerin beipflichten: Da sind Sie ja endlich. Bei so einem Wetter. Was für eine Kälte. Wir dachten schon, Sie kommen gar nicht an. Wir warten bereits eine Stunde. Zum Glück ist Ihnen nichts passiert. Drei Armpaare sind vor die Brüste gekreuzt. Die Frauen sind dünn angekleidet, sie frieren. Was für ein Jahr dies Jahr, sagt die eine. Völlig verrückt, unmöglich, stimmt die zweite ein. Dieser Schnee mit einem Mal, schließt die dritte die Einlage ab. Schon entsteht eine lange Pause. Schweigen folgt, bis der Ledermantelmann das Wort nimmt, zum Jahr sagt, dass es ein Jahr ist wie jedes Jahr; nicht besser, nicht schlechter als die Jahre zuvor. Nur weil dieser Schneenebel herrsche, die Damen, so ein Nebelschnee sei nichts, keine enorme Sache im Vergleich zu den Nebeln auf blanker See, die ihm vor Neufundland passiert seien, mit gefrorenen Händen auf Kabeljaufang, den Blauen Wittling kaschen, den Schellfisch, die Makrele, den Hering aus Netzmaschen tütern. Wenn die Hände Fischkrallen sind, das heiße ich Kälte. Wenn Schnee wie ein Mantel wärmt, das heiße ich Gestöber. Wenn Nebel reine Atemluft ist, das heiße ich Nebelgüte. Rauch steigt zu seinen Worten über die Hünenschultern. Er ascht in den Eimer für die Kippen. Im Heim darf nicht geraucht werden. Die Frauen achten darauf sehr. Das Haus heißt Haus Sonne. Der Ort, an dem das Heim steht, ist ein kleines Ostseebad, zwischen Rostock und Wismar gelegen und hört auf den Namen Nienhagen. Schneeweiß liegt die Selbstgedrehte in der Hand des Ledermantelmannes. Schneeweiß glüht sie zwischen seinen Fingern, wenn er mit dem Arm gestikuliert. Das alles sehe ich und sehe ich nicht, obwohl ich fast nichts von allem sehe.
Josephimonat März, sagt der Mann, stößt Rauch zu seinen Worten aus. Rauch, der in turbulenter Strömung über dem kopflosen Mann in krauser Bewegung aufsteigt, über dem Schulterbuckel instabil wird und im Dunst des Tages verschwindet. An Gregor kommt die Schwalbe über des Meeres Port. An Benedikt sucht sie im Haus ihren Ort. An Bartholomäus ist sie wieder fort. Alte Bauernregeln, sagt der rauchende Mann, sagt, dass man am Neunzehnten des Monats ins Freie treten soll, um den Himmel anzuschauen. Ist er klar, bleibt er es im ganzen Jahr.
Die korpulente Frau nickt: Wenn Sie es sagen. Sie haben sich noch nie geirrt. Der Mann pafft und redet und pafft. Die Zigarette hört nicht auf zu qualmen. Die Erzieherinnen lächeln wohlgefällig. Sie wollen das Kind des Tages in Empfang nehmen. Den lütten Butscher häw ick bi, sagt der Ledermantelmann. Greift hinter sich ins Leere, weil ich mich seinem Greifversuch entziehe, der plumpen Hand ausweiche. Ich kann mich nicht in Luft auflösen. Es gelingt mir nicht, in den Mantel einzusteigen, der aus einem harten, störrischen Material gegossen scheint. Nicht einen Spalt kriege ich zu fassen. Nirgendwo hinein kann ich mich verkriechen. Nix da mit Verstecken. Frisch hergezeigt, was für ein Prachtkerlchen du bist. Mit der Griffsicherheit des Mannes, der einen zappelnden Dorsch bei dessen Kiemen packt, fasst der Mantelmann mich beim zweiten Versuch hinterrücks, zieht mich hervor, präsentiert den Fang seinen erstaunten Erzieherinnen, die ihre Hände an die Wangen schlagen, aus einem gemeinsamen Mund rufen: Nicht doch, dieser da, wohl nicht der.
MAN VERABSCHIEDET DEN RAUCHENDEN MANN so rasch es geht. Man führt das Kind in sein neues Reich. Ein wohlriechendes Heim. Das empfindet das Kind augenblicklich. Dünn bin ich. Unglaublich zurückgeblieben, schimpft mich die Heimleiterin. Zurückgeblieben bin ich, denkt der Junge, der ich bin: Die Kunde, dass dem Haus ein Zurückgebliebener gebracht worden ist, ruft Personal um den Neuankömmling herum, der im Mittelpunkt des unverhohlenen Interesses steht: Ich finde, der Kopf passt nicht zum Rest. Gott, schaut euch nur die Füße an. Was für dünne Armchen der hat. Ich finde seine Ohren schön. Und die Rippen erst. Die Erzieherinnen stehen mit schief zur Seite gelegten Köpfen vor mir. Sie blicken von ihren zur Seite gelegten Köpfen aus an mir herunter, herauf. Sie heben mich an: Wie leicht er ist. Wie eine Feder, man spürt kaum was auf seinem Arm. Ich werde in die Wanne gestellt, mit harter Bürste geschrubbt. Mir werden die Ohren durchgepustet. Ich bekomme die Haare geschnitten, die Fingernägel gestutzt. Der Doktor kommt. Sie streichen mir liebevoll das Haar. Sie wollen mir die Angst vor dem Doktor nehmen, der einen schneeweißen Unschuldskittel trägt. Andere Kinder schreien, dass der Doktor den Kittel auszieht. Bei mir löst der weiße Kittel keinerlei Angst aus: Du bist wohl Kittel gewohnt? Sie fassen meinen rechten Arm am Handgelenk. Sie sagen das Wort Mutter. Sie fühlen meinen Puls. Er regt sich nicht, bleibt konstant, wenn sie das Wort Mutter aussprechen. Das Wort Mutter ist ein meine Person nicht erregender Begriff. Das Wort fliegt durch meinen Kopf hindurch wie ein Pfeil durch eine leere Halle. Mit den Worten Wiese, Strand, Ball, Haus weiß ich mehr anzufangen. Wiese ist Spiel und Bienengesumm, im Freien essen. Der Kopf auf meinem Hals ist deutlich zu groß. Der Körper zum Kopf ist spindelmickrig und dürr. Sie nennen mich Spinne. Sie rufen mich der dünnen Armchen, Beine wegen Weberknecht, Gottesanbeter. Ich stehe nackt auf dem Tisch. Die Liste fälliger Reparaturen ist lang. Ich bin ein ramponiertes Kind, bin ein untauglicher Kahn. Das Heim ist mein Reparatur-Dock. Damit das Schiff ins Dock einfahren kann, werden die Tanks des Docks geflutet. Das geflutete Schiff kommt auf Dock. Sie pumpen die Tanks leer. Das Dock hebt sich mit dem lädierten Schiff aus dem Wasser. Sie nennen diesen Vorgang in der Werftbranche Lenzen. Vom Wasser aufs Trockene bugsiert, stehe ich nackt vor dem Doktor. Der Doktor fordert mir ab, kräftig durchzuatmen, die Luft in meiner Lunge zu stauen. Der Doktor betastet mich von Halswirbel zu Halswirbel, die Wirbelsäule entlang bis zu den Pobacken. Er tastet mit spitzen Fingern die Innenschenkel entlang, prüft meine Waden, Knöchel. Ich habe meine Zehen zu spreizen. Der Doktor drückt mir in den Bauch, sucht mit den Fingerkuppen hinter meine Rippen zu kommen, fasst hinter meine Rippen, presst seinen Fingerballen in meine beiden Schlüsselbeinkuhlen. Ich lasse mir den Kopf verbiegen, den Hals dehnen. Ich stehe gerade und krumm und höre meine Gelenke knacken. Ich bin Prozeduren gewöhnt, jammere nicht, tue wie mir befohlen, schaue am Doktor vorbei, zum Fenster in die Gegend hinaus. Blicke den Frauen von oben herab auf ihre Blusen, Broschen, Finger, Hände, Röcke, Gürtel, Falten, Hüften, Strümpfe, Haar- oder Schuhspitzen.
Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle zu allen Fragen den Kopf. Ich sehe den Doktor bedenklich gucken. Ich sehe ihn sich jäh abwenden. Er redet im leisen Ton. Die Erzieherinnen mustern mich und blicken den Doktor an, ehe sie gleichzeitig nicken. Eine Erzieherin schnäuzt in ihr Taschentuch. Der Doktor bespricht die Befunde und gibt Taktiken vor. Sie nehmen mich spät vom Tisch herunter. Sie stehen noch lange vor mir. Sie stehen und legen die Köpfe noch schiefer. Drei Jahre, heißt es, wird es dauern. Die Zeit geht schnell um. Aus dem Zurückgebliebenen muss ein Nichtzurückgebliebener geformt sein, ehe ich ins Schulheim darf. Die Heimleiterin kommt hinzu: Reden magst du nicht? Nun gut. Mit niemandem? Ich bin die Banni. Darfst Banni zu mir sagen. Ziehst vor zu schweigen. Ist manchmal besser, schweigsam sein. Der Fisch dort im Aquarium redet auch nicht viel.
Im thüringischen Sömmerda verdurstete der neun Monate alte Leon. Die Mutter hatte ihn und seine zweijährige Schwester in der Wohnung zurückgelassen. Das Mädchen wurde nach vier Tagen gerettet, nachdem sich Mitarbeiter des Jugendamtes Zugang zu der Wohnung verschafft hatten.
WIR SCHREIBEN DAS JAHR 1958. In den westdeutschen Kinos läuft der Film Diebe habens schwer, eine Komödie über Kleinkriminelle, die vom großen Geld träumen. Im Osten Deutschlands feiern die Bürger den Sputnik 1, von sowjetischem Boden aus in den Kosmos gesandt. Wir sind im Osten Deutschlands. Der Segen hängt schief zwischen Ost und West. Die Berlinkrise, ausgelöst durch die ultimative Forderung der Sowjetunion nach der Entmilitarisierung Westberlins, und die gewaltsame Kollektivierung in der Landwirtschaft lassen den Flüchtlingsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik wieder anschwellen. Am Ende sind seit der Gründung des Staates bis zum Mauerbau nicht weniger als 2,7 Millionen DDR-Bürger in den Westen geflohen. Dort ziehn sie hin auf wilden Meereswogen, arm kommen sie im fernen Weltteil an, und unterm fremden, weiten Himmelsbogen erwartet sie ein neues Schicksal dann, Elend, Armut und Kummer wiegt sie gar oft in Schlummer, oh armes Deutschland, kannst du ohne Graun die Flucht der armen Landeskinder schaun. Um mich herum Bedürftigkeit, Fantasie durch Mangel. Der Staat ist die Luft um uns herum. Wir atmen den Staat. Der Staat lässt uns nicht dick werden, im Hirn nicht und nicht am Bauch. Der Fußballgott des Jahres heißt Pele und ist so jung wie die älteste Tochter der Heimleiterin. Ohne Mutter, ohne Vater aufgewachsen, bin ich belastet genug und weiß ein paar Jahre später, dass ich später Schriftsteller werden muss, dafür einzustehen, dass ich in der schönen Limousine sitzen bleiben darf und nicht Gleisarbeiter, Knastbruder, Militär werden muss wie so viele Jungen im Heim, denen nichts anderes übrig blieb.
Traumhaftes Ende einer langen Suche: Nach sechsundsiebzig Jahren hat eine im Krieg heimatvertriebene Frau ihre dreiundneunzigjährige leibliche Mutter wiedergefunden. Hartnäckige Recherchen ihrer Schwiegertochter und die Fachkunde des Kirchlichen Suchdienstes führten die beiden Mitte August nach jahrzehntelanger Trennung zusammen. Beim Suchdienst in Passau war von einem Jahrhundertereignis die Rede. Anhand der Geburtsurkunde sei die Gesuchte in einem Seniorenheim ausfindig gemacht worden. Familienmitglieder sind erstaunt über die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Damen. Die Seniorin hatte als sechzehnjähriges lediges Mädchen im heutigen Tschechien ihre einzige Tochter zur Welt gebracht und ins Waisenhaus geben müssen. Sechs Jahre später kam das Kind zu Pflegeeltern und landete nach der Vertreibung 1945 in einem schwäbischen Flüchtlingslager. Zu ihrer Familie gehören zwei Töchter, ein Sohn, fünf Enkel und ein Urenkel, der sich über eine neue, äußerst seltene Verwandte freuen darf: die Ururoma. Durch kirchliche Suchdienste sind nach dem Zweiten Weltkrieg an die 19 Millionen Menschen ausfindig gemacht worden. In der Kartei befinden sich nach den Wohnorten in den Vertreibungsgebieten erfasst zwanzig Millionen Namen, das Schicksal von mehr als fünfhunderttausend zivilen Vermissten bleibt unaufgeklärt.
DIE HEIMLEITERIN hegt eine Vorliebe für Sonderfälle. Ich bin ein vierjähriger, der Zuwendung würdiger Fall. Ich muss vor ihr stehen, dass sie den Sonderfall überblickt. Zwei Mädchen stehen dabei. Sie sind die Töchter der Heimleiterin, Rosa und Lena. Brav stehen sie, andächtig mit staunenden, offenen Mündern. Sie tuscheln leise. Ich verstehe nicht, was unter den Mädchen getuschelt wird. Sie lachen mich an. Ich lache die beiden Mädchen nicht an. Sie nehmen mich links und rechts bei den Händen. Ich gehe mit den Mädchen unter Achtungshinweisen die schmale Treppe empor in deren Kinderzimmer. Oh, diese Helle, denkt es in mir. Welch eine Farbenpracht. Ich soll den Sessel besteigen. Ich soll in ihm Platz nehmen. Ich sitze wie in Gips gegossen. Ich wage nicht, mich zu bewegen. Ich erstarre vor Glück. Ich hocke steif und angefroren. Ich kauere im Sessel. Die Mädchen reden wechselseitig auf mich ein. Brauchst nicht bei den anderen sein. Wohnst bei uns. Freust du dich? Schau, was wir für dich vorbereitet haben.
Welch ein Singen, Musizieren, Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren, Frühling kommt mit Sang und Schalle. Wie sie alle lustig sind, flink und froh sich regen, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar, wünschen dir ein frohes Jahr. Ich bekomme ein Bett zugewiesen. Ich darf im Mädchenzimmer schlafen. Ich erlebe wundervolle Tage, Wochen, Monate. Die Ärzte besuchen mich im Mädchenzimmer. Ich werde im Beisein der Mädchen untersucht und vermessen, gewogen und betastet, mal mit gerunzelter, mal mit nicht gerunzelter Stirn vom Arzt begutachtet. Die Mädchen ergehen sich an meinem Dasein, finden süß und bezaubernd. Ich bin ihnen ein Püppchen. Sie binden mir Schleifen ins Haar. Sie ziehen mir Mädchenkleider an, benehmen sich beflügelt, lachen und albern viel; eine Heiterkeit herrscht, die leise auf mich überspringt. Ich lache nicht, ich lächle kurz. Ich esse bei den Mädchen am Kinderzimmertisch. An Feiertagen bekomme ich Extraportionen. Was die Mädchen nicht mögen, schieben sie mir hin, was ich nicht aufessen mag, teilen sie unter sich auf. Alle wolln wir lustig sein, lustig wie die Vögelein, hier und dort, feldaus, feldein, springen, tanzen, scherzen. Kannst Schwester zu jeder von uns beiden sagen. Bist unser kleines Brüderchen. Wir tun ja nur so.
Ich mag meine beiden Schwestern. Ich gefalle den beiden Mädchen sehr. Ich darf mit ihren Spielsachen spielen. Sie stellen mir ihre Spielutensilien zur Verfügung. Ich nenne einen hölzernen Traktoren mein. Sag, das ist ein Traktor. Sprich uns nach. Sag Traaaktooor. Sag Tuff. Ich rede nicht. Ich grinse die Mädchen an. Sie einigen sich rasch. Sie sagen: Dann eben nicht. Und wenn ich weine, sagen sie: Weine nicht, kleiner Bruder. Und dann sagen sie wieder: Sag Tute, Tuuuteee.
Im Oktober starb im sächsischen Zwickau der vierjährige Mehmet an Hirnblutungen. Sein Stiefvater hatte das Kind unter anderem mit einem Bambusstock geschlagen und ihn nachts an sein Bett gefesselt. Die Eltern mussten sich wegen Totschlags verantworten, dem Jugendamt konnte kein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Mehmets drei Geschwister leben heute bei Pflegefamilien.
DIE LEIBHAFTIGE MUTTER hat mich verlassen. Ich werde in das nach Krankenhaus riechende Säuglingsheim überführt. Ich dämmere hinter weißen Gitterstäben eines Kinderhausbettes. Ich bin im wahrsten Sinne flach auf den Rücken gelegt und gelte als Kümmerling. Ich starre die Zimmerdecke über mir an, blicke auf Wasserflecken und Schattierungen, verfolge Schattenspiele, die sich mühen, mir Abwechslung zu bringen. Helle und dunkle, harte und weiche Strukturen. Tröstende und Angst einflößende Deckenlichtspiele, die mich unterhalten, am Leben halten, den Verlust der Geburtsstadt vergessen machen wollen. Schatten. Animation. Licht. Gewicht. Gaukeleien gegen die Trostlosigkeit und Abnabelung, die nicht zu heilen ist, die mit mir überlebt und wächst und groß wird und erst zum Lebensende hin, am Schluss mit mir absterben wird.
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