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Ich bin Niemand
und werde auch Niemand sein. Jetzt
bin ich ja zum Sein noch zu klein;
aber auch später. Mütter und Väter,
erbarmt euch mein. Zwar es lohnt nicht
des Pflegens Müh: ich werde doch gemäht.
Mich kann keiner brauchen: jetzt ist es
zu früh und morgen ist es zu spät.
Ich habe nur dieses eine Kleid, es wird dünn
und es verbleicht, aber es hält eine Ewigkeit
vielleicht.
Lied der Waise
MAMA. MAMBO. MAMBAS. Mamelucken. Mammut. Ich lerne weitere Worte sprechen, kann bald vollständige Sätze sagen. Es geht voran und es braucht Jahre, bis aus dem Zurückgebliebenen ein schulbereiter Junge gezimmert ist. Einen Test nach dem anderen muss ich zwischenzeitlich über mich ergehen lassen. Die Ärzte haben ihre transportablen Schreibmaschinen mit. Sie sitzen hinter mir und fragen mich aus. Sie hören mir zu, notieren was, schreiben auf, nehmen zu Protokoll und sind längst dazu übergegangen zu erkunden, wann ich anfange ihnen zu misstrauen. Du bist im Sprechzimmer, und es wird recht wenig mit dir gesprochen. Du bist in keinerlei Wohnlichkeit und siehst auf die Teppiche, auf denen ihre Schreibtische stehen. Weiche Teppiche für ihre Schuhe. Du stehst nackt und barfüßig vor ihnen, auf blankem Boden und nickst, wenn sie dich was fragen, in die Kegel ihrer Lampen gehüllt, deren Lichter sich unterschiedlich brechen und an den Wänden hinter ihnen seltsame Schatten bilden, die lustig zucken, was sie nicht mitbekommen, weil sie dem Ganzen ihre Rücken präsentieren.
ALL MEINE ERINNERUNG ist schwarzweiß. Ein guter langer Streifen mit vielen Unterbrechungen, Rissen. Das Licht geht an im Erinnerungssaal. Es wird so ungestüm hell, die Augen stechen. Ich trage Tränen davon und kann für ewige Momente gar nichts denken und fühlen. Der Film, in den ich mich hineinversetze, beleuchtet das Jahrhundert, in dem ich mich nur vage auskenne. Das Jahrhundert, in dem ich mich am längsten aufgehalten habe, dieses zwanzigste Jahrhundert, je weiter ich mich in den Kinostuhl versenke, weist es vornweg den Vietnamkrieg als das Erlebnis meiner Jugend aus. Dieser fiese Kerl mit dem miesen Haarschnitt, der dem Vietnamesen auf offener Straße seinen Colt an die Schläfe drückt, den Abzug zieht und mit seinem Schuss einen Proteststurm auslöst; welche Siegeschancen Amerika je noch hätte haben können, dieser eine Killer hat den Militärs alles vermasselt, die Hippies ermöglicht, die beiden mutigen dunkelhäutigen Schnellläufer auf die Podeste erhoben, wie ich sie und meine Generation fiebernd noch auf ihren Podesten erinnern. Ihre Fäuste in die Höhe gestreckt, stehen sie bei der Siegerehrung, verweisen mit geballter schwarzer Kraft auf die ewige Schande mit Namen Amerika. Nähere Daten zu Tat und Umständen: Olympische Spiele in Mexiko. Smith heißt der Gewinner der Goldmedaille. John Carlos heißt der andere, der die Bronzemedaille im gleichen Wettstreit erobert hat. Sie halten ihre Fäuste mit je einem schwarzen Lederhandschuh bekleidet empor. Handschuhe von einem Paar Handschuhe genommen. Den Tag zuvor am Eckladen gekauft. Dunkel und schön, glatt und glänzend wie sie selbst. Sie teilen sich das Paar brüderlich. Sie treten ins Stadion ein und stülpen sich erst kurz vor ihrem Weltauftritt die Handschuhe über. Der eine von beiden sich zuerst den rechten Handschuh über die Rechte, der anderen den linken über seine Linke. So schreiten sie zum Protestpodest, die Fäuste zu recken, die Köpfe zu neigen, ihre Kinnladen auf ihren Brustkörben ruhend, wie sie die historische Aufnahme zeigt, die zum Symbol des Widerstandes rund um den Globus wird. Das zweite Foto aus meiner Zeit von Tagen, Taten, Menschen, die mir bis an mein Grab im Gedächtnis haften bleiben. Podest/ Protest, jubele ich heute wie damals mit den zwei Athleten, die aus dem amerikanischen Team wie aus einem falschen Traum ausgeschlossen wurden und sich von der weißen Verlierermasse beschuldigt sehen, die farbige Olympiaweste in Mexiko befleckt zu haben.
Ich trage in diesem Film knielange hellbraune Sommershorts ohne Raffinessen, dazu das kurzärmlige Hemd, kratzende Söckchen und viel zu enge Schuhe. Ton in Ton die Shorts. Jedes Kleidungsstück den anderen Kleidungsstücken angeglichen, mit einer Musterung von damals versehen, die modisch genannt werden soll und mich hat stets an die Schildkröte, Unterseite ihres Panzers denken lassen. Die Jacke war aus Filz, denke ich mal. Eine Art Joppe, die mir an den freien Stellen die Haut gepiesackt hat. Es wird ein Sportfesttag gewesen sein, zu dem sie mich so hergerichtet haben. Klamotten, für festliche Eventualitäten gedacht, wie die Adoptionsmutter betont hat. Der Hausmeister im Heim dagegen hat von Eventualität gesprochen, wenn die Raumtemperatur trotz voller Heizungskraft unterhalb des eingestellten Wertes lag. Die unerwartete Eventualität, Kinderchen, mit welcher jedermann rechnen soll, nur niemand rechnen kann, hat mir da reingepfuscht. Die Heizung läuft. Die Luft erwärmt sich nicht auf die gewünschte Temperatur. Die Luft nimmt nicht die gewünschte Temperatur an. All der neumodische Kram. Diese verdammte Temperatursteuerung, die grob genommen nix als ihre Macken und Grenzen präsentiert. Schiete hoch vier, schimpft er. Wenn ich richtig behalten habe: Liegt die Raumtemperatur beispielsweise im Sommer über dem eingestellten Wert, sorgt der Thermostat dafür, dass die Heizung nicht arbeitet, dadurch kühlt der Raum aber nicht ab. Um mit solchen Eventualitäten fertig zu werden, fluchte der Hausmeister, muss ein Mechanismus her, dessen Bezeichnung ich lange habe nicht aussprechen können, bis zu dem Tag, als ich aus der Nacht gekrochen das Wort Homöostasemechanismus zu sprechen herausgefunden habe.
DIE FRÜHE KINDERZEIT ist die Erinnerung an Lokomotiven und Dampf, Ruß und Männer in schmierigen Arbeitsklamotten. Männer, die an den Loks schuften, mit Ölkannen umgehen. Kannen mit langer, kleiner Tülle, womit das Öl an unzugängliche Stellen im Mechanismus gebracht wird. Öle, die abfließen. Schmutzige Gesichter sehe ich. Schmutzige Hände und geknautschte Taschentücher weiß ich dazu. Riesige Allzwecklappen, mit denen sich die Männer Ruß und Schweiß von ihren Stirnen wischen. Lappen, in die sie gerne laut und kräftig schnauben. Rotzfahnen, die mit Rotz gefüllt wieder in die Taschen ihrer Arbeitshosen zu stecken sind oder ihre kleineren Jackentaschen beulen. Und die Lokomotiven rauchen. Die Männer rauchen inmitten von Dampf und Ruß Zigaretten. Billiges Zeug. Selbstredend filterlos. Ihre Gesichtshaut ist allezeit schwarz. Ihre Poren sind schwarze kleine Punkte im schwarzen Gesicht. Die gepunktete Haut der Männer nenne ich Knurrhahnhaut. Die Loks pfeifen. Die Männer husten und krächzen. Die Loks zischen, heulen und hecheln, stoßartig nehmen sie Fahrt auf. Maschinenteile rucken. Stangen senken sich. Dampf erzeugt Druck. Druck erzeugt Bewegung. Räderwerk setzt sich widerwillig in Gang. Peitschen. Hiebe. Gestänge drängt unerbittlich. Blankes Eisen gegen mürrisches Räderwerk. Die Lok kommt in Fahrt. Ob die Maschine mag oder nicht, sie nimmt Fahrt auf. Die Fahrt wird gewaltig. Das Tempo wird stetig gesteigert. Die Waggons hören auf, sich bockig zu stellen und zu verweigern. Der Zug der Zeit. Sie werden Teil von ihm. Von einer Maschine, an einem Strang gefügig gemacht, zur raschen Zunahme von Geschwindigkeit gezwungen. Als gewöhnt sich Wagen für Wagen an den gemeinsamen Trott, beginnen die Waggons lustig mitzufahren, statt sich von der Lok ziehen zu lassen. Dampf keift und zischt. Ich schaffe es ich schaff es nicht ich schaffe es ich schaff es nicht, äffen wir Kinder in Solidarität mit der ausfahrenden Lokomotive, die es jedes Mal wieder neu und mächtig von alleine schafft, uns Jubel abverlangt, bis der lange Zug aus dem Bild verschwindet und nur noch der Rauch ihrer Plagen über allem und die Schlusslichter des letzten Waggons zu sehen sind. Ein letztes lautes Piepen. Dann ist der Zug von der Waldkurve verschluckt. Die Männer des Bahnbetriebs wenden sich der nächstfolgenden Lokomotive zu. Sie hämmern und hebeln. Schwarz, glänzend die von ihnen väterlich behandelten, sorgsam gepflegten Maschinenteile. Anmutige, für alle Zeiten verlorene Röhren, Schrauben, Muttern, Öffnungen, Ränder und deren Umgebungen, Deckel zu unheimlichen Öffnungen. Die Fünfziger sind für mich aber auch Falschheit und lästige Aufwartung. Ich sehe armselige Kreaturen in armseligen Klamotten. Ich sehe Elend in den Straßen, vor den Häusern. Der Krieg ist noch nicht so lange her und an den Kindern am besten zu empfinden. Die sind in Gruppen, zwischen all den taumligen Männern, Frauen, unterwegs, um nach Nahrung zu fahnden, zu organisieren, was immer es gibt. Und seltsame Hüte auf komischen Frisuren sehe ich. Mäntel, über die Arme gelegt, die heute wie damals viel zu schade sind, als Mäntel getragen zu werden. Falten. Röcke. Ellenbogen. Hand. Tasche. Ohren und Kümper. Leder. Geruch. Fäulnis und Angebote zu sauteuren Preisen garantiert aus dem Westen. Strumpfhosen aus derbem Stoff. Busse sehe ich. Klotzig, formvollendet fahren sie mit Vorderansichten wie Hundevisagen an dir vorbei. Du schaust dir die Fahrgäste hinter den zur Seite weg, nach unten, oben hin klappbaren Außenfenstern an. Runde Riesenleuchten siehst du dir an. Fenster, die Augen sind, mit starren Scheibenwischern versehen, quer über die Frontscheibe gestellt. So war das und so kommt das nie wieder. Der Polizist benutzt die Trillerpfeife. Die Pfeife trillert laut und die Trillerpfeife bleibt mit Trillerpfeiftönen voll und wird niemals leer. Coco kauft sich, bitte sehr, eines Tages Schießgewehr, weil ein Mexicano das macht so großen Spaß. Coco zielt und schießt sogar Loch in Wand von Billys Bar, so entsteht nebenbei schöne Schießerei. Und ich weiß die ersten mutigen, blutjungen Frauen. Mit Zigaretten zwischen Zeige- und Mittelfinger gehen sie in die Öffentlichkeit, die so etwas wie ein allgemeines Ausgehverbot war. Nicht geeignet, sich zu zeigen. Das Haar zum lockeren Dutt zum Beispiel, aus dem hervor Strähnen ringelten und lang hingen wie bei der Bardot. Kostümjacken geöffnet. Blumen am Revers. Skandal. Hüpfend, übermütig, ausgelassen zeigen sie sich als gackernde Backfischgruppen, miteinander, gegenseitig eingehakt, zu siebent, zu neunt in breiter Reihe mitten auf dem zentralen Platz. In Mokassins, in Schnallenschuhen zum Schlüpfen. Springen und tanzen über den Busbahnhofsvorplatz. Gehen aus in eindeutigen Posen. Wie für den eigens mitgebrachten Fotografen, der skandalöse Bilder von ihnen schießt. Tragbare Radios denke ich mir dazu. Jemand, der Flöte spielt. Ein wenig ungelenk, aber die Ordnung störend mit seinem kindlichen Spiel. Coco liebt von ungefähr gut gebratenes Beefsteak sehr, und weil Beefsteak teuer ist, kommt ihm eine List: Sonntag fehlt mit einem Mal großes Pferd in Billys Stall, Billy geht der Nase nach und dann gibt es Krach, tipitipitipso. Es hält uns nichts im Heim. Wir meiden die Erwachsenen, wo wir sie nur meiden können. Rangen sind wir, toben über die Felder, Plätze. Einer schielt oder droht ein Stielauge zu werden. Dem haben sie von innen Heftpflaster gegen das Brillenglas geklebt, dass ihm geholfen ist. Und damit fertig. Überhaupt die Brillen dieser Zeit, zum Brüllen die Gestelle. Dunkel. Schwarz, derb und erdfern, verspielt. Bernstein gestreift. Mitunter sandig, rostig, weißlich, schrill und gelb gehalten. Guillotinen, nicht zu Unrecht Nasenräder genannt. Läufst du heute damit herum, halten sie dich für einen Jecken. Und erst wir Kinder. Angezogen wie alte Männer. Nette Jungen, in abgeschnittene Kniebeinhosen gezwängt, in ebensolche Joppen, unter ebendiesen lächerlichen Mützen, Hüten, Kappen in schrecklichen Farben, Formen, Größen. Du setzt sie dir verwegen auf den Kopf, sie sehen trotzdem bescheuert aus und halten den Winden nicht stand, sitzen sie nicht wie angeklebt und fest angenagelt auf dem Schädel. Man muss ihnen nachlaufen, sie einsammeln und zu Hause vorm Händewaschen herhalten, hinzeigen. Karierte Hemden trugen wir. Hosen mit Falte bis zum Hosenumschlag, weiße Pullis mit Kragen. Sobald es Sonntag war, liefen wir auf, als wären wir nicht als Kind, sondern gleich als Opa, Polospieler, Golfer auf die Welt gekommen. Gelackte, steife Schuhe langweilen sich an unseren Füßen. Wie von handelsüblichen Puppen ausgeborgt, bewegen wir uns in einer holprigen Gangart. Wir klacken, ja. Wir lassen, wenn man es nicht sieht, die blöden Schuhe durch die Luft fliegen, in der Schuhabteilung, in den Fluren, wo wir halt so sind und uns der Schabernack zwickt. Ich meine mal so: Jungen wie wir, was wollen die mit einem Druckknopf an der Schuhschnalle. Du kannst nicht mit Druckknopfschuh zur Schule gehen. Knöpfe, die sich gottlob bald von allein erledigten, nicht standhielten, weil wir sie traktierten, wo es ging. Knöpfe, die binnen Minuten ausleierten, sich ständig öffneten. Wie die Inneneinlagen, die beim Bolzen verrutschten. Und Sohlen, die sich als Sohlen flink auflösten. Wir wollten Stiefel tragen, aus Leder bis an die Knie, mit Schaft. Wie sie der gestiefelte Kater im Märchen trägt oder die Leute, die Rummelplätze auf- und abbauen. Gürtel mit glänzenden Schnallen wollten wir. Mit Wappen bestückt. Einen Anker. Das Kreuz. Die untergehende oder aufgehende Sonne, je nachdem. Hosenställe, von Knöpfen zusammengehalten. Stattdessen wölbten sich unsere Hosenbünde albern nach außen, bildeten Wülste, kniffen den Bauch, dass die Erwachsenen die roten Ringe für Gürtelrosen hielten, davon redeten, wie tödlich die Gürtelrose ausgehen kann. Schöne Hosenträger trugen zu meiner Zeit immer die anderen Kinder, die Gören der feineren Herren und Damen. Der Gemüsemann zum Beispiel trug welche; vom Hauptstrang aus gehen zwei geflochtene Lederriemen hauchfein in eine Lasche über; die hinterm Bund zu knöpfenden Enden sind wahre Prachtstücke. Es ist nicht die Zeit stattlicher Bäuche. Die Schlotterleiber müssen nicht von Hosenträgern gebändigt werden. Die Männer tragen weiße Hemden, Schlipse sind ihnen um die Kragen geschnürt, das Haar wird streng nach hinten gekämmt getragen, Frisuren sind im Grunde in Wellen gelegtes Haupthaar. Sonntags ist Spielen nicht erlaubt. Wenn Sonntag ist und Ausgangszeit, bewundern wir die Mädchen an den Händen ihrer Eltern. Sie sind zurechtgemacht wie zur Hochzeit. Das Haar ist gescheitelt. Die Bünde und Flechten sind am Ende mit weißen Zopfschleifen versehen. Die Mädchen laufen auf. Sie wandeln mit gereinigten Ohren, tragen Schleifen im Haar und gehen daher, als würden sie uns nicht mehr kennen. Und stecken in komisch bestrickten Westen. Dunkelrot. Dunkelblau. Braun. Graubraun. Graugrau. Strickzeug über dünnen Hemdchen mit kurzen Ärmeln getragen. Nach dem Sonntagsausgang wird die Sonntagshose, der Sonntagspulli, das Sonntagshemd mit seinen sonntagsweißen Kragenspitzen mit der Sonntagsjacke abgelegt. Die Sachen verschwinden gefaltet und auf Bügel gebracht im großen Ausgehkleidungsschrank. Der steht bei den Stadtkindern in der Regel im Schlafzimmer. Wir schlüpften zurück in unsere wahre Hülle, die Alltagsklamotten, und können uns endlich wieder lockerer bewegen. Die Stadtkinder aber müssen, ob sie wollen oder nicht, treu und brav mit den Erwachsenen zum Marktplatz trotten. Zum Hafen, zum Sportplatz, zum Park und durch die Böschung hindurch tollen wir Heimkinder. Vorbei an all diesen anderen, geputzten Ausgehkindern, die zwei Schritte vor den Eltern herlaufen, um von ihnen bewundert zu werden. Zum Park hin, zum Festplatz, der Seebrücke entgegen, wo sie sich alle treffen, sich in geleckter Steifheit aufführen.
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