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Draußen zündete er sich eine Zigarette an: auch gegen die Regel, denn für gewöhnlich legte er den Weg zum Briefkasten und wieder nach dem Haus im Sturmschritt zurück, Rauchen hätte da nur Zeit gekostet. Diesmal ging er zwar aufgeregt durch die spärlich erleuchteten Straßen — wie üblich war um diese Zeit kein Mensch unterwegs, selbst die geparkten Wagen unter den Lichtglocken der Laternen schienen zu schlafen —, ging aber doch langsamer als sonst, um an der Nachtluft noch einmal in Ruhe zu überprüfen, was ihm in der letzten Stunde widerfahren war.

Ich bin in einen Hinterhalt gelockt worden, dachte er, man hat mich mit einem fundamentalen Schwindel konfrontiert, um meine geistigen Kräfte zu testen.

Als er zurückkehrte, fehlte der Löwe.

Blumenberg behielt die Hand lang auf der Klinke der inzwischen geschlossenen Gartentür. Hatte er es mit einem Fabellöwen zu tun bekommen, dem abwesenden Löwen, der nicht zu dem gehörte, was der Fall ist, also nie und nimmer zur Welt? Aber, aber, dachte Blumenberg, dieser ganz andere weltabweisende Löwe kommt doch in etwas vor und ist damit auf eine neue und andere Art der Fall. Die Sprachspiele der Weltbenenner holen den Löwen ins Dasein und Leben zurück, murmelte er leise vor sich hin.

Zufrieden mit dem Wort Weltbenenner, welches er umstandslos auf sich münzte, ging Blumenberg zu Bett.

Coca-Cola

Wie üblich wachte Blumenberg gegen halb zwölf Uhr auf. Von den Träumen wußte er nur noch, daß ihm der Vater eine afrikanische Briefmarke geschenkt hatte, ein Löwe mit hochgebogenem Quastenschwanz als Motiv darauf. Mit einer Pinzette war ihm die Marke überreicht worden, in Zeitlupe von der großen Vaterhand in die Kinderhand wechselnd. Nein, nicht ganz. Eine Traumlähmung hatte ihn befallen, die Bewegung kam zum Erliegen, seine Kinderhand konnte die Pinzette nicht greifen, und dies Verharren regte den Träumer derart auf, daß er erwachte, aber umgehend wieder einschlief.

Vom Schlaf hatte er dennoch eine gewaltige Portion Trost empfangen; er fühlte sich gut wie selten und bekam sogar Lust, wieder wie früher — flott, flott — den Ball über ein Tennisnetz zu schlagen, wobei er probeweise die Arme auf Brusthöhe hob und die Ellenbogen nach hinten stieß. So tatendurstig hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. In seinen Beinen kribbelte die Lust, einem Ball nachzujagen; er sah aufstäubenden roten Sand und hörte das helle Plopp, wenn der Schläger den Ball traf, und das dunklere Geräusch, wenn der Ball in den Sand geschleudert wurde. Er fragte sich, ob es wirklich eine weise Entscheidung gewesen war, das Leben eines extremen Stubenhockers mit rostenden Knochen zu führen. Da durchzuckte ihn ein Schmerz im linken Bein, genau an der Stelle, an der er sich einst eine Muskelzerrung zugezogen hatte, als er unglücklich auf einen Ball gesprungen und hingefallen war.

Bevor er den ersten Kaffee trank, den Bademantel auszog und sich für die Tagesgeschäfte ankleidete, schaute er im Arbeitszimmer nach dem Löwen. Kein Löwe, nirgends. Was weiter nicht verwunderlich war, denn es herrschte ja heller Tag, ein strahlend heller Maitag, an dem alles leuchtete wie neu geschaffen und nur berührbare Dinge ans Licht traten.

Die halb geleerte Flasche Wein, das Glas standen noch da. Blumenbergs Nasenflügel weiteten sich; nachdem er einige Male schnuppernd hin und her gewandert war, wollte es ihm so vorkommen, als hinge noch eine Restschwade vom Löwengeruch im Zimmer. Er öffnete zwei Fenster und starrte auf die heftig von Bienen angeflogenen Rosenstöcke.

Seine Vorlesung heute handelte von der Trostbedürftigkeit des Menschen bei dessen gleichzeitiger Trostunfähigkeit. Pünktlich um 14 Uhr 15 betrat er den Saal im Münsteraner Schloß durch eine Seitentür. Die Bänke waren vollgepackt, sie füllten sich gerade mit den letzten Nachzüglern. Blumenbergs Blick fiel auf das Pult; in seiner Miene zeigte sich Ekel. Sechs leere Coca-Cola-Flaschen standen dort, um ihn zu verhöhnen. Absichtlich da hingestellt oder unabsichtlich stehengelassen, sie standen da als Provokation. Blumenberg legte Homburg und Mantel ab, stellte seine Tasche auf die langgezogene Theke, die das Pult von beiden Seiten flankierte, und überlegte, was zu tun sei. Kein Wort würde er darüber verlieren. Um möglichst wenig hauteigene Berührungsfläche mit dem verklebten Objekt gemein zu haben, ergriff er die erste Flasche mit spitzem Daumen und Zeigefinger und trug sie zur hofseitigen Fensterbank.

Die Trostbedürftigkeit des Menschen ist umfassend, sagte Blumenberg mit leicht näselnder Stimme, während er sich umwandte, zum Pult spazierte und mit der zweiten Flasche auf dieselbe Weise verfuhr: Die Anstrengungen, die von Menschen unternommen werden, Menschen zu trösten, sind immens, aber selten erfolgreich.

In dem altehrwürdigen Saal breitete sich eine ungeheure Spannung aus, aber niemand wagte zu lachen.

Er sprach langsam und mit schneidender Präzision: Mit fragwürdigem Recht sind Trostbedürftigkeit und Trostfähigkeit unter den Schutz einer gewissen Verschämtheit gestellt, wie die Armut oder die Dummheit. Die Diskriminierung des Trostes schreitet unaufhörlich voran.

Inzwischen war er bei der dritten Flasche angelangt und erledigte das Wegtragen in solchem Gleichmaß, daß er sogar auf dieselbe Anzahl von Schritten bei jedem Hin- und Widergehen kam, auf exakt zweiundzwanzig.

Den Bauch der vierten Flasche mit spitzen Fingern im Griff, führte er aus, der Trost beruhe auf der allgemeinen Fähigkeit des Menschen zu delegieren, beruhe darauf, daß der Mensch nicht allein alles tun und tragen müsse, was ihm obliege und zufalle. Aber, sagte Blumenberg, und bei diesem Aber nahm er die fünfte Flasche, wir sind unfähig geworden, über das gewaltige Arsenal an Instrumenten für Trost und Vertröstung zu verfügen, das in der Geschichte der Menschheit aufgehäuft worden ist.

Dies gelte vor allem für die Deutungen der Welt, die keinen anderen Dienst zu leisten hätten als den, dem Menschen Trost zu bieten. Bei der Rückkehr vom Transport der sechsten Flasche sprach er mit einer Energie, als müsse er seine Definition mit dem Stichel in die Hirne der Zuhörer ritzen: Aller Verdacht gegen den Trost, alle Diffamierung von Trostbedürfnissen beruhen auf der Annahme, daß er eine Vermeidung von Bewußtsein sei.

Er öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr ein Bündel Karteikarten und einige Manuskriptblätter, die er seelenruhig auf der Theke ausbreitete: Sie, meine Damen und Herren, sind trostbedürftige Wesen, manchmal sogar wahre Jammerläppchen, und ich bin ein ebensolches; wir wollen trösten und getröstet werden, so einfach ist das aber nicht.

Als er von seinen Karten hochblickte, sah er ihn. Der Löwe kam den Mittelgang herabgetrottet, nicht in einer schnurgeraden Linie, sondern leicht hin und her schlingernd nach Raubkatzenart. Genau wie Aristoteles ihn beschrieben hatte, kam er daher — mit kraftvollen, sehnigen Beinen, mit breitem Schultergürtel, gutem Brustkorb und gutem Rücken, sich in den Schultern wiegend beim Laufen. Dieser Löwe war bedeutend jünger, als er ihn in Erinnerung hatte, ein Staatsexemplar von einem Löwen im Vollbesitz seiner Kräfte und Ansprüche, mit glänzendem, lückenlos geschlossenem Fell.

Wenn der Tröster kommt, frohlockte Blumenberg in sich hinein, werden wir ihn womöglich nicht einmal erkennen. Wie unerkannt der Löwe blieb, zeigte sich unzweifelhaft. Die Hörer in den Bänken sahen ihn nicht. Unbeirrt fuhr Blumenberg fort: Die Bewußtseinsprogramme, die wir uns verschrieben haben, die fortwährenden Ansporne, mehr Bewußtsein zu schaffen, sie nötigen uns dazu, unsere Entscheidungen nach Maßgabe des Realismus zu treffen. Das herrische Einfallen der Sachen in die Worte beraubt uns der Fähigkeit, Trost zu spenden, Trost zu empfangen.

Trotz seiner Stattlichkeit wirkte der Löwe im Saal kleiner als der Löwe im Arbeitszimmer.

Er führte aus, insofern sich die Menschen wechselseitig immerfort zum Realismus nötigten, seien sie zwar wie eh und je trostbedürftig, reell jedoch untröstlich. Sie hätten die Wunschherrschaften und die Fähigkeit zur Illusion fahren lassen und sich damit eines weiten Feldes der Tröstung beraubt, das sie aus der angsterregenden Verschlungenheit des Werdens und Vergehens befreien könnte.

Blumenberg glaubte kein Wort von dem, was er gerade gesagt hatte. Der Löwe widerlegte ihn souverän. Ein starkes Fluidum des Trostes ging von ihm aus. Etwas rechts vor der Theke hatte er sich niedergelassen, recht malerisch anzusehen, dachte Blumenberg. Für einen Moment sah er sich selbst als kleinen Mann und den Löwen riesengroß; bequem zwischen den Tatzen des Löwen liegend hielt Blumenberg seine Vorlesung. Über seinem winzigen Menschenkopf hing das gebieterische Haupt des Löwen, der allem, was in der Vorlesung zur Sprache kam, durch das hin und wieder entblößte Gebiß Dringlichkeit und Schärfe verlieh.

Der Löwe wandte den Kopf zu Blumenberg hin, hätte ihn aber auch den Studenten zuwenden können und damit den Saal überblickt, einen alten, leicht ansteigenden Hörsaal, mit fast bis zum Boden reichenden Fenstern zu beiden Seiten. Auf den Bänken saß allerdings nicht nur die studentische Jugend; ein gebildetes älteres Publikum aus der Stadt, darunter auch einige Professoren von anderen Fachbereichen, fand sich regelmäßig zu Blumenbergs Vorlesungen ein. In der vordersten Reihe saßen einige besonders eifrige Studenten, die die Mikrophone ihrer Kassettenrecorder auf ihn gerichtet hatten.

Sie alle sahen durch den Löwen hindurch, als unterscheide er sich nicht vom Holz des Fußbodens. Aber vier junge Leute, die locker verstreut im Raum saßen, spürten, daß sich etwas Außergewöhnliches zugetragen hatte, was über die buchenswerte Aktion ihres Professors mit den Cola-Flaschen hinausging. Es war, als hätten sie etwas gerochen, mit feinen Instinkthärchen etwas erspürt, das üblicherweise nicht in einen Vorlesungssaal gehörte. Richard, der mit langgestreckten Beinen in der drittletzten Reihe mehr hing als saß, war davon ebenso ergriffen wie Isa, die — wie immer — kerzengerade ihren Platz in der ersten Reihe etwas rechts vom Pult okkupierte; Gerhard und Hansi, auf mittlerer Ebene rechts und links verteilt, waren davon auch angesteckt, aber keiner von ihnen hätte zu sagen gewußt wovon. Nur Isa merkte, daß der Professor häufig zu Boden sah, auf eine Stelle, an der es nichts weiter zu entdecken gab.

Vom Löwen ging ein Kraftstrom aus, der Blumenberg ungemein belebte.

Er fühlte sich einig mit seinem Geschick wie nie zuvor. Sicher, die meisten seiner Vorlesungen waren ihm geglückt. Durch einen in der gesprochenen Rede präzis erfaßten Gedankenstrom die eigene Person in eine kulturelle Sphäre zu heben und sie darin wachsen zu lassen, die Fülle der Gedankengunst durch Fremdgenuß (der sich in den aufmerksamen Gesichtern seiner Zuhörer spiegelte) in Selbstgenuß zu verwandeln, das alles war ihm längst vertraut. Frei, von Kärtchen zu Kärtchen, die er auf der Theke wie bei einer Patience hin und her schob, eine federnde Rede aufzubauen — während er wechselweise nach links in den grünen Park blickte und dann wieder die Zuhörer ins Auge faßte —, Witze zwischeneinzustreuen und Neuland zu betreten, das sich ihm während des Redens erst zeigte, wobei sein Gedächtnis ihn nie im Stich ließ, sondern Verweise und Reflexionen bildhaft in dieses Neuland eintrug, darin hatte er Übung, darin war er Meister.

Er war sich seiner außerordentlichen Fähigkeiten bewußt. Seine Dienstgeschicklichkeit als bestallter Philosoph trat leuchtend zutage.

Mit Blick auf den Löwen sprach er beseelt. Sprach von Sphärenharfen, Pilgerhymnen, Werdelust des Alls und einer kleinen Meldung aus den Vermischten Nachrichten, derzufolge ein Amerikaner eine Zeithaube erfunden hatte, die ein bißchen wie ein bestickter Kaffeewärmer aussah, gleichwohl sollte sie dem Träger ermöglichen, sich in die Welt vor der Geburt und nach dem Tod hineinzutasten. Dabei kam er so in Schwung, daß er das imaginäre Zeithäubchen des Douglas E. Bickerson mit erhobenen Händen sich auf den Kopf setzte.

Um die sich ausbreitenden Heiterkeitswellen zu dämpfen, holte er den nächsten Satz aus der Tiefe seiner gewölbten Brust: Denken Sie an den Zeithaushalt des Menschen, die verwundbarste Stelle seiner Existenz — denken Sie daran, wie schwierig es ist, an die unaufstockbare Endlichkeit und Unwiederbringlichkeit wirksamen Trost heranzuführen. Um etwas gänzlich Unvertrautes ins Vertraute zu ziehen, dazu bedarf es raffinierter Kunstgriffe, und sei’s ein Häubchen, das wie ein gestickter Kaffeewärmer aussieht.

Gelächter im Saal. Blumenberg hatte mit beiden Händen die höherstehenden Seitenwände umfaßt, jetzt löste er die Hände und legte sie parallel auf die Fläche des Pults nieder: Von den Kunststücken der Zeitverlängerung, der Zeitverwandlung, von den Heimkehrwünschen in die archaische Unverantwortlichkeit, von Heilsplänen höherer Art und den geistigen Kräften, die diesen zum Aufschwung verhelfen — das nächste Mal.

Er schob die Karteikarten zusammen; während der Applaus heftig auf die Bänke gepocht wurde, klopfte er seine Karten in Form und steckte sie in die Tasche zurück, packte Hut und Mantel und verschwand rasch, wie er gekommen war, durch die Seitentür. In Wahrheit nicht ganz so rasch. Richard, Gerhard, Hansi, Isa und einigen anderen bot sich ein seltsames Schauspiel, als ihr Professor, nachdem er die Tür aufgeklinkt hatte, plötzlich innehielt und sich umwandte, eine Weile wartete und dabei vor sich hinsah. Als wolle er jemanden durchlassen, trat der Mann höflich zur Seite, drehte sich dann mit einem eleganten Schwung zurück, packte die Klinke, schloß die Tür und war weg.

Wie immer hatte er den Besuchern keine Gelegenheit geboten, anschließend mit ihm ins Gespräch zu kommen. Es war eben nicht seine Art, herumzutrödeln und dabei auf die eine oder andere Bemerkung zu lauern, etwa ein Lob oder einen törichten Kommentar, den ein Student noch auf dem Herzen haben mochte. Er stieg sofort in seinen Peugeot und fuhr die wenigen Meter zur philosophischen Fakultät.

Als er in seinem Büro anlangte, um sich für eine Sprechstunde bereitzuhalten, zu der sich ein Student schriftlich angemeldet hatte, kehrte die Idee wieder, die beim ersten Auftauchen des Löwen in ihm herumgehuscht war, die Idee, es handle sich um einen Studentenulk. Im Moment war kein Löwe da. Blumenberg befand sich allein im Zimmer.

Ein Jux? Aber wie sollte das gegangen sein? Seine Studenten sollten einen ausgestopften Löwen nach Altenberge geschafft haben? Einen, der sich, wie gerade bewiesen, auch noch vollkommen natürlich bewegen konnte? Unmöglich. Als er an seine Studenten dachte, was inzwischen eher selten vorkam, wollte ihm kaum einer namentlich einfallen. Vorbei die Zeit, als der frisch berufene Professor in Gießen die Nachmittage und manchen Abend in angeregter Diskussionsrunde mit Assistenten und Studenten zubrachte, eingehüllt in den Rauch von Zigarren und Zigaretten, befeuert von Wein und Likören. Vorbei die Zeit, da er als jüngerer Spund manch älterem Kollegen höflich zwar, aber von sardonischem Übermut gezwickt Contra gab, Joachim Ritter etwa, den er anläßlich des Vortrages eines Physiologen in der Mainzer Akademie in eine amüsante Diskussion über die Kreislaufprobleme verwickelte, die der aufrechte Gang des Menschen mit sich brachte, wobei er, Blumenberg, die Vorteile der Zweibeinigkeit gegenüber der Vierbeinigkeit in Zweifel zog und dabei schlau, gut verpackt, gut versteckt, äußerst diskret durchblicken ließ, daß es mit dem vielgerühmten aufrechten Gang des Menschen auch im metaphorischen Sinn nicht allzu weit her war, wie die Erfahrungen der jüngsten deutschen Vergangenheit bewiesen.

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