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Flattersachen? wunderte sich Gerhard.
Wischbewegungen.
Das Privileg der Schwachen, Geschichten zu erzählen, murmelte Blumenberg vor sich hin.
Richard hob zur Abwechslung die rechte, dann die linke Hand und bog der Reihe nach die Finger ein, als wolle er rechnen: Alle Schuld zugezählt, alle Schuld weggezählt.
Vielleicht wäre etwas gewonnen, wenn jeder sich anstrengte, die Reste von dem zu erfassen, was ihm bei seinem Hinscheiden widerfahren ist, sagte die Mehliss. Ich erinnere mich, wie trocken sich Bettwäsche anfühlt, wenn man mit der Hand darüber hinstreicht.
Spatzspatz, Spatzl, sagte Isa.
Wir — wir befinden uns in eigentümlicher Schweblage zwischen Heilsanteil und Schuld. Richards Hände suchten eine wägende Bewegung nachzubilden: Um — um — aber dazu müßten wir aufwachen.
Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: War es ein Franzose? Ein berühmter Franzose? Der gesagt hat, Erinnerung bedeute, man sei herausgetreten aus der Ungewißheit des Aufwachens, und darüber schwebe irgendwo ein Engel, der die zurückgewonnene Welt zum Stehen bringt? Die Hände gingen wieder herunter, seine alte Gobelintasche kam ihm vor die Augen, Tasche, die er sich, auch wenn von ihr nicht mehr geblieben war als ein Polster aus Luft, mit einer inständigen Bewegung vor das Herz drückte.
Fleischgehäuse, sagte die Mehliss.
Aufflüge vom Leibkerker, sagte Isa.
Blumenberg öffnete die Augen wieder. Aus der Ferne, schwach, hörte er Signaltöne, ein Pfeifen. Nein, die Erinnerung führte keine Vorstellung heran, woher das Pfeifen gekommen sein mochte, auch keine Bilder, wie der Kranz im Meer schwamm und in der Kranzmitte die Urne im Wasser versank, eine elegante Urne aus gehärtetem Salz, die sich alsbald im Meer zerlöste. Er konnte auch nicht erkennen, daß die Töne von einer Steuermannspfeife herrührten und der Tonfolge entsprachen, die einem Kapitän gebührte, der an Bord seines Schiffes verstarb und zu Wasser gelassen wurde.
Hansi rauchte und rauchte. Er suchte in Gedanken nach dem Bild des Lammes in seinem Koffer — hieß das Wort Koffer? Koffer, ja, es hieß Koffer. Er sah die Vorder- und Hinterhufe des Tieres zusammengebunden auf der Plinthe liegen, sah die wölkchenhaft duftige Wolle des Lammes, seinen schwärzlichen Blick, der nach unten ging, aber der Name des Malers entzog sich ihm. Ein Spanier? Flame? Italiener? Alsbald lag da kein einzeln gefesseltes Lamm mehr, sondern Herden von Lämmern aus verheißenen Ländern, aus Dörfern, um Hügel genistet, zogen an ihm vorüber. Das Flotzmaul einer Kuh näherte sich, als wolle sie ihm mit der Zunge übers Gesicht lecken.
Wörter entfielen. Namen entfielen.
Gerhard blickte zärtlich auf die geöffnete Hand in seinem Schoß, als läge darin die goldene Tasse.
Kerzengerade setzte sich Isa auf. Die Kartoffeltriebe kriechen heran und verschlingen unsere Namen.
Hier gibt’s keine Triebe. Hier wird nichts verschlungen. Bei mir ist unter der Haube noch alles versammelt, gab die Mehliss zurück. Da erstarb der Glanz auf ihren Lackschuhen und überführte sie der Lüge. Als sie versuchte, sich auf ihre Lieblingskantate zu besinnen, war ihr ein Wort entfallen –
Adam muß in uns verwesen,
soll der neue Mensch genesen,
der nach –
— nach was, nach wem? –
geschaffen ist?
Sie zog die Stirn in Falten, während sich der Rest des Textes mühelos einstellte:
Du mußt geistlich auferstehen
und aus Sündengräbern gehen,
wenn du Christi Gliedmaß bist.
Aber sie wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. Leise versuchte sie, den Text zu summen, kam dem fehlenden Wort trotzdem nicht auf die Spur. Ungläubig wiegte sie den Kopf — alles war so verwirrend, viel zu verwirrend, um es zu erfassen.
Was in Blumenberg noch an Geistesgegenwärtigkeit war, wurde allmählich trüber, Bilder, Halbsätze drifteten in Schwallen an ihm vorbei, und darin entschwammen einzelne Wörter; wie wesentlich das Entschwimmende war, kam ihm mit sachtem Schrecken zu Bewußtsein, als er merkte, daß er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern konnte, auch an die Namen der anderen nicht, die in seiner Nähe saßen. Wie durchziehende Vogelschwärme kreuzten Wörter in ihm, sanken, erhoben sich, pfeilten vorüber, er tastete an den Wortleibern herum, die er kurz zu fassen bekam, probierte Silbenkombinationen aus, ohne Erfolg.
Wie hieß noch? — vage hoffend dachte er, würde ihm der Name eines anderen einfallen, kehrte auch der eigene zu ihm zurück, aber das noch hatte den Namen bereits entführt. Selbst der Haubenkopf der Frau, der ihn immer zu präzisen Wörtern angeregt hatte, Kopf, der sich unerklärlicherweise langsam hin und her wiegte und den er dabei mit einem Rest von Besinnungsgier betrachtete, versagte seinen Dienst.
Und doch, wenigstens ein Name kam ihm wieder in den Sinn: Goethe. Und schon wogten einige Zeilen an ihm vorüber:
— nicht mehr bleibest du umfangen
in der Finsternis Beschattung,
und dich reißet neu Verlangen
auf zu höherer Begattung –
Er, der bisher zusammengesunken am Bauch des Löwen gelehnt hatte, machte den Rücken los, setzte die Fußsohlen auf und kam auf die Knie zu sitzen, wo er aufwärts der Gelenke die Schenkel streckte, den Oberkörper hob und mit zitternden Armen die Weite berührte.
Auch der Löwe hatte sich erhoben. Sein Fell glänzte im Licht. Die Muskeln traten hervor, zeigten, wer der Herr war.
Königlich, königlich schollernden Klanges fuhr Blumenberg! aus dem Rachen des Löwen. War der Mann in der Höhle bisher nicht viel mehr gewesen als Luft an der Luft, schien auf den Namenszuruf hin eine andere Materie ihn zu befüllen. Lichtsendendes Blut zirkulierte in seinen Adern. Er strahlte und zitterte und hielt die schwankenden Arme weit ausgebreitet. Da hieb ihm der Löwe die Pranke vor die Brust und riß ihn in eine andere Welt.
Dank
Von Anfang an hat mir Bettina Blumenberg klug und freiherzig geholfen. Die fremde Sicht auf ihren Vater hat sie großzügig respektiert, mit Witz meine tastenden Versuche begleitet.
Gespräche und der Austausch von Briefen mit Michael Bernhart, Ursula Flügler, Friedhelm Herborth, Michel Krüger, Dietrich Leube, Ernst Osterkamp, Klaus Reichert, Claudia Schmölders, Hermann Wallmann und Uwe Wolff haben mich ermuntert. Einige von ihnen haben mir Materialien zur Verfügung gestellt, insbesondere Michael Bernhart und Uwe Wolff. Dank gebührt auch meiner Lektorin Julia Ketterer.
Nach korrekten Blumenbergzitaten wird man vergeblich suchen. Aber Halbsätze, Kurzprägungen, abgewandelte Gedankengänge, einzelne Wörter habe ich dem verehrten Philosophen entwendet. Wo immer er jetzt weilen möge: ich verneige mich vor ihm und bitte um Nachsicht.
- Сорок дней Муса-Дага - Франц Верфель - Современная проза
- Пропащий - Томас Бернхард - Современная проза