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Oder: wenn in der Passion der Barabbas-Ruf ertönte, so hieß das auf aramäisch nichts anderes als Bar-Abbas, Sohn des Vaters, und damit hätten die Juden Jesus, ihren König, aus den Händen des Pilatus zurückverlangt und ihm die Treue gehalten. Entgegengesetzt zu der verhängnisvollen Deutung, die darin den Ruf nach Freilösung eines Verbrechers gehört haben wollte.
Wenn ihn solche Gedanken überkamen, fühlte er, wie das Blut frisch durch seine Adern strömte; alles in ihm kribbelte und zirkulierte auf Teufel komm raus. Es hielt ihn dann kaum auf seinem Stuhl, er mußte im Zimmer herumwandern oder sich für eine Weile an das Stehpult stellen und Kniebeugen machen, allerdings im gehörigen Abstand zum Löwen, wodurch der Bewegungsspielraum ziemlich eingeschränkt war, Löwe, der bei solchen Manövern immerhin den Kopf hob und ihn — es kam ihm jedenfalls so vor — leicht besorgt — oder war es eher ironisch? — aus verwunderten Löwenaugen ansah. Ein, zwei Mal war es sogar schon vorgekommen, daß er sich selbst Krallen und Tatzen statt Hände und Fingernägel an den muskelgeschwellten, fellbezogenen Leib gewünscht hatte, um sich mit dem Löwen eine Mordsbalgerei zu liefern. Himmlisch, mit einem Löwen zu brüllen und zu röhren und spielerisch das Gebiß in seine Flanke zu schlagen; es zuckten ihm förmlich die Hände, um das Krallenwachstum hervorzulocken. Ein wenig fellhaft war er ja selbst; wenn er auf seine zierlichen Hände blickte und dann auf die Haare, die unter den zurückgeschobenen Strickbünden hervorquollen, kam er sich löwennah vor.
Einmal hatte er vor einem Käfig gestanden und Löwe und Löwin bei der Begattung zugesehen. Aus nächster Nähe. Ein ungeheures Schauspiel, eine Zumutung für die Ohren. Das Gebrüll hallte von den gekachelten Wänden in solcher Stärke wider, daß er sich schützend die Hände auf die Ohren legen mußte. Der Löwe war jung, in seinen besten Jahren, ein prachtvolles Tier, das aus seinem innersten Mark heraus brüllte. Das glänzende Fell, das Spiel der Muskeln — hinreißend. Angsterregend zugleich. Tatzenschläge, Nackenbisse. Die Löwin wurde machtvoll niedergedrückt. Gewalttätig war’s, obszön, bei weitem alles übersteigend, was an Triebkraft in einem Menschen steckte. Blumenberg erschauerte und ertrug den Anblick nicht lang. Zwei Kinder standen neben ihm und sahen dem Schauspiel starr wie kleine Salzsäulen, mit offenen Mündern zu.
Sobald er sich beruhigt hatte und wieder auf seinem Stuhl saß, wurde er heiter und sehr, sehr friedlich. Die Himmelsflucht, aus der der Löwe herabgeströmt war, um sich als täuschend echte Erscheinung zurechtzukomponieren und in natürlicher Anmutung auf dem Teppich zu dösen, war dazu da, sein, Blumenbergs, Vertrauen in die Welt, zumindest bei Nacht, zu festigen.
Die Nacht lud ein zur Erinnerung. Mit dem Zurückweichen und Verstummen aller vordringlichen Geräusche trat das Untergegangene hervor und geriet vor die inneren Sinnesorgane. Aber der Löwe sorgte dafür, daß es ohne Angst geschah. Frühmorgens, wenn seine Stimme nicht mehr im Kontakt mit der Stenorette den Raum füllte, war er regelmäßig ins Lager Zerbst zurückgekehrt. Totentanzgetreibe. Nicht ganz zerlöst, rückte es jetzt in leichterer Schwebmanier heran. Er lag nicht mehr zittrig, hungrig, schweißkalt auf einer verwanzten Holzpritsche. Er roch nicht mehr den atemverschlagenden Gestank. Der Löwe beschützte ihn vor der Todesfurcht. Der Löwe führte Heinrich Dräger heran, den Lübecker Fabrikanten, der ihn vom Lager errettet und später sein Studium finanziert hatte. Die klugen Augen Drägers ruhten auf ihm. Tauchretter, Höhenatmer und Heeresatmer waren in den Dräger-Werken hergestellt worden. Es atmete sich schwer in jener Zeit. Was vom Lager übriggeblieben war, mußte den Löwen als Wächter passieren; der sorgte für eine Rückschau in bekömmlichen Maßen. Etwas Vogelflaum hing vielleicht am Stacheldraht, aber kein zerschundener Menschenleib. Der Draht selbst war zu einem Hakenmuster geworden, an dem sich kein Körper mehr zerfleischen konnte. Organisation Todt. Ging der Name durch den Löwen hindurch, verlor er seine böse Strahlkraft. Startbahnbau für Düsenflieger. Plattengießen für die Autobahn. Er mußte keine Fugen mehr verfüllen. Torfstechen. Er mußte nicht mehr Torf stechen. Seine Hände waren nicht mehr aufgerissen und blutig. Was er jetzt auf die Schaufel nahm, wog leicht. Leichtwiegende Papiere, auf denen er die Pathien der Zeit erforschte. Mischling ersten Grades. Die böse Bezeichnung war harmlos geworden. Die drei Schwestern seiner Mutter, die in Theresienstadt ermordet worden waren, auch seine Lieblingstante Laura, sie wiesen nicht mehr auf ihn als einen, der sein Leben in Ruhe genießen durfte. Was im Schatten lag, nahm teil am umhüllenden Atem der Luft, und die vom Leben Gelösten flohen weiter in die sich zudunkelnde Luft hinein.
Im Lager hatte er rettende Sätze geübt. Einmal hatte er eine Postkarte erhalten, auf ihrer Vorderseite der schlafende Löwe von Christian Daniel Rauch. Nicht dessen wachender Bruder. Die beiden monumentalen Eisenburschen stammten aus der Löwenschule der Hohenzollern, sie hatten am Eingang des Hotels Stadt Hamburg gelegen. Nach der Palmsonntagnacht 1942 waren sie verschwunden, um, als alles vorbei war, in der kleinen Anlage vor dem Holstentor wiederaufzutauchen. Der müde Löwe schlief, den schräggelegten Kopf auf eine Tatze gebettet, seine Mähne hatte nichts Mähnenhaftes, sie ähnelte einer Perücke aus Troddeln und Quasten und Korkenziehergewinden. Zu den kindlichen Mutproben hatte gezählt, sich am Portier des Hotels vorbeizustehlen und auf einen der blankgewetzten Rücken zu klettern, bis der Portier aufmerksam wurde und einen verscheuchte. Im Lager hatte ihn der tiefe Schlaf des Löwen beschäftigt. Und eine kindliche Idee war ihm gekommen: Wacht der Löwe auf, bin ich gerettet. Wacht der Löwe auf, bin ich gerettet. Der Eisenbeißerlöwe würde das Maul aufreißen und die Feinde zermalmen.
Sein Teppichlöwe war nicht aus schwarzem Eisenguß. An der Mähnenhaftigkeit seiner Mähne gab es nichts auszusetzen. Ein wirkliches Zwiegespräch zwischen ihm und dem Löwen war bisher unterblieben, obwohl sie sich stets in Hörweite voneinander aufhielten. Der Löwe öffnete nicht das Maul und sprach Königsworte in rauhtönendem Hochdeutsch. Allerdings gähnte er hin und wieder. Vielleicht öffnete er das Maul auch nur, um sein Gebiß zu lüften und zu zeigen, daß er im Ernstfall noch immer Herr der Lage wäre und mit einem Prankenschlag das unbeherrschbar Wirkliche ins Zimmer reißen könnte.
Er hatte sich bemüht, keinen Menschen mit der Angst zu belästigen, die er früher empfunden hatte und die später in manchen Nächten zurückgekehrt war. Spiele nicht mit den Tiefen des Anderen, an diese Aufforderung Wittgensteins hatte er sich intuitiv zu halten versucht, auch wenn ihm das nicht immer gelungen war. Man mußte den Anderen vor der eigenen Angst verschonen und durfte die Angst des Anderen nicht mutwillig hervorlocken. Mit dem eigenen Angstbekenntnis rief man bei seinem Gegenüber nur Verlegenheit auf den Plan. Der Löwe war ein Gegenüber, dem mehr zuzumuten war. Überfiel ihn die Angst jetzt, gab er sie ohne Hemmung an den Löwen weiter, der sie verstand und sogleich entschärfte.
Blumenberg konversierte mit ihm auf inneren Laut- und Hörwegen. Nicht minder intensiv, als ob ein auf Band festzuhaltendes Gespräch zwischen ihnen stattgehabt hätte. Der Löwe vernahm alles, überprüfte alles und achtete mit hoheitsvollen Ohren, die selbst im Keim verworfene Gedanken hören konnten, und Augen, denen nicht die kleinste Bewegung entging, auf die Diktate Blumenbergs, damit der Philosoph bei seinen geistigen Flugmanövern auf Kurs blieb.
Der Löwe funktionierte anders, als Wittgenstein geglaubt hatte. Wenn ein Löwe sprechen könnte, könnten wir ihn nicht verstehen, hatte er behauptet. Blumenberg verstand ihn sehr wohl. Der Löwe fungierte als Zuversichtsgenerator, der die Härchen des Protests, die sich in Blumenbergs Denken immer wieder aufstellten, ein wenig glattbürstete. Bei jedem Fehlalarm, den Blumenberg auszulösen im Begriff war, gewahrte er am Löwen ein Zucken, das den Gedanken, erst halb in Worte gefaßt, unterbrach und unterband. Geriet er in Gefahr, sich allzu sehr auf Leerformeln auszuruhen, blähte sich die Rede durch unnütze Schnörkel und Girlanden, teilte sich der Unwille des Löwen sofort mit, und aus dem Geistbausch entwich die Luft. Blumenberg räusperte sich dann zur Entschuldigung und schwieg. Für eine Sekunde versank sein Hirn in glosender Schwärze, um in strahlender Klarheit wieder emporzutauchen, bereit für einen neuen Satz — zum Beispiel einen über die Theologie: Sie sei, diktierte er mit schneidender Lust, das Stolzieren vor der verborgenen Majestät, der Widerspruch gegen den Selbstentzug der Gottheit, wobei ihn die Lachlust packte, denn er sah plötzlich sich selbst mitsamt dem Löwen vor der verborgenen Majestät im Zickzack auf und ab paradieren.
Noch einen anderen Einfluß übte der Löwe auf ihn aus: hatte er früher an seine Berufskollegen gedacht, waren so manches Mal kleinliche Regungen in ihm aufgekommen, Neid. Neid besonders auf den Kollegen Habermas, der äußerst einflußreich war und ein stattliches Bataillon Schüler herangezüchtet hatte. Habermas. Landauf, landab fiel der Name. Zwar hatte er den stechenden Neid immer als unwürdig und unnütz empfunden, eine idiotische Selbstverminderung war dabei im Spiel, über die er längst hätte hinaus sein müssen, aber es war ihm nicht gelungen, ihn abzuschütteln, zumal der Kollege im selben Verlag publizierte und seine Bücher einen ungleich höheren Absatz fanden als die eigenen. Seit der Löwe ihm Gesellschaft leistete, fühlte er sich von solchen Eifersüchteleien erlöst. Habermas konnte nun tun, was er wollte, es kratzte ihn nicht mehr, ja, die habermasischen Bemühungen nahm er sogar mit heiterer Frivolität zur Kenntnis, wofern sie ihm bei Zeitungslektüren unter die Augen kamen. Eine Abneigung hatte er auch gegen den Kollegen Taubes gefaßt, von dem er ursprünglich viel gehalten und so manche Anregung empfangen hatte. Der Mann hörte das Gras auf den Schreibtischen wachsen. Aber sein Schwindeltalent, der Hang zur Intrige und zur Attacke, das Kritikgehabe, die verworrenen Umstände, in die er sich hineinmanövrierte, hatten ihm die Beziehung zu Taubes allmählich vergällt. Frostig hatte er ihm auf seine letzten Briefe geantwortet. Durch den Löwen hindurch nahm er Taubes’ Schlechtigkeit nun nicht mehr als Ärgernis wahr, sondern als morosen Windmühlenkampf einer gehetzten, verstörten Seele, die unfähig war, zu dem zu stehen, was sie sagte, und eher Anspruch auf Mitleid als auf Verdammnis hatte, wiewohl er sich — trotz Löwe — nicht dazu überreden konnte, den Kontakt mit ihm wieder frisch aufleben zu lassen.
Und noch eins hatte der Löwe gelindert: hatten ihn früher Druckfehler, die er in seinen Schriften entdecken mußte, in Wallung gebracht — einmal hatte ihm, als er ein frisch gedrucktes Buch aufschlug und ihm sofort Boch in die Augen sprang, Boch statt Buch, man stelle sich vor! diese Teufelei das ganze Weihnachtsfest verhagelt —, so ärgerten ihn solche Fehler zwar nach wie vor, aber nur für kurze Zeit, ja, er entwickelte insgeheim sogar ein Gespür für den amüsierlichen Hintersinn solcher Fehler, was er nach außen hin, den Verantwortlichen gegenüber, allerdings nicht zugab, um sie ja nicht dazu zu verlocken, sich noch mehr Fehler zu leisten. Er bezeichnete sich gern als Glücksaufschlager, das meinte einen, der mit dem ersten Griff, der ersten aufgeschlagenen Seite inmitten eines Buchs, das für ihn Wesentliche erwischte. Im Falle des Boch war er eher ein Pechaufschlager gewesen.
Keine absurden Aufregungen, keine Verwirrspiele mehr. Zu Klarheit und Vertrauen trug der Löwe bei. In den kleinen persönlichen Dingen wie im Großen. Als wäre die augustinische Lehre von der Illumination, der göttlichen Erleuchtung des Seinsgrundes, auf leisen Sohlen in sein Zimmer getreten, um bei ihm Wurzeln zu schlagen. Und in ihn, einen Erwachsenen mit blendendem Verstand, genährt von und geschult in der modernen Skepsis, war etwas von der Weltgunst, die einst dem Kind gewährt worden war, wieder eingekehrt. Er war nun mühelos Ptolemäer und Kopernikaner zugleich, wanderte wie ein Besucher, der zwei herrlich ausstaffierte Säle bestaunt, den einen mit geschlossener Decke, den anderen mit Loch darin, zwischen den beiden Weltdeutungszuständen hin und her.
Im geheimen floß aus dem Löwen die nie versiegende Zusicherung, das Netz der über Himmel und Erde geworfenen Namen, welches die Menschen zu ihrer Beruhigung ersonnen hatten, sei selbst dann noch reißfest, wenn Physiker, Astronomen, Biologen und philologische Raspelwerker mit feinen Scheren und Schabwerkzeugen emsig an jedem Namen und jeder Metapher, die im Gefolge der Namen heraufgezogen war, herumschabten und — schnitten. Was nicht bedeutete, daß die Wahrheit statisch gegeben war. Sie mußte sich wandeln, aber eher in Form mählicher Metamorphosen, ohne rigide Zersetzung älterer Zuschreibungen und Denkmodelle, die in den Orkus geschickt wurden.
Obwohl nun alles zu seiner Zufriedenheit eingerichtet war, ertappte er sich manchmal bei der Träumerei, er würde seinen Löwen einer Versammlung von Zoologen und Zoodirektoren in einem riesigen Auditorium präsentieren. Wie ein Dompteur, allerdings ohne Peitsche, trat er herein, im Gefolge den schleichenden Löwen. Er beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm seine Befehle ins Ohr, hieß ihn sich auf die Hinterbeine setzen oder sich hinlegen, sich auf den Rücken wälzen und seinen Bauch herzeigen. Verblüfft wären die Herren vom Fach, äußerst verblüfft, wenn sie, von ihm dazu aufgefordert, die Handprobe vorzunehmen, vorsichtig näher rückten und — der eine dem anderen den Vortritt lassend — durch den Löwen hindurchgriffen und nichts, buchstäblich nichts erwischten als eine Handvoll Luft.
Hansi
Eine Vorlesung war ausgefallen, weil der Professor krank geworden war. Manche deuteten es als Zeichen, daß dieses Krankwerden mit dem Tod seiner Studentin in Verbindung stand. Soweit sie sich erinnern konnten, hatte der Professor noch nie eine Vorlesung ausfallen lassen. Es wurde darauf gelauert, ob er wohl in der folgenden Woche — und sei es in einer entlegenen Anspielung — auf den Vorfall zu sprechen kommen würde.
In gespannter Erwartung saß Hansi mit aufgeschlagenem Notizbuch, einen Montblanc darüber gelegt, in seiner Bank, ein Solitär zwischen drei frei gebliebenen Plätzen, die gemieden wurden, als könnte man auf ihnen einen Hautausschlag bekommen. Obwohl sich der Hörsaal füllte und einige schon auf dem Boden hockten, setzte sich niemand neben Hansi. Daß er einen Nachbar hatte, kam höchst selten vor, und dann handelte es sich jedes Mal um einen von den Alten aus der Stadt, die ihn nicht kannten.
Dieses Mal nahm Gerhard neben ihm Platz, was in Hansi eine winzige Aufscheuchung bewirkte, seine linke Wange begann zu zucken.
Von wem stammt der Pont Euxinius? fragte Gerhard.
Hansi rückte ein wenig von ihm ab, gab aber mit klarer Stimme Auskunft: Von einem unbekannten Studenten, der im Karzer starb. Dann hob er seine Ledermappe vom Boden hoch, kramte darin und holte das Blatt mit dem Gedicht hervor. Er legte es vor Gerhard hin.
- Сорок дней Муса-Дага - Франц Верфель - Современная проза
- Пропащий - Томас Бернхард - Современная проза