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NACH DEM TOD DER ADOPTIONSMUTTER entdecke ich jene drei Kartons, nicht üppig gefüllt, schmale Zigarrenkisten, in ihnen Fotos aus den heftigen Sehnsuchtstagen. Ein schönes halbes Dutzend Fotografien erwärmen mir das Herz, zeigen mich neben der Cousine am hellen Saalestrande, in der Pioniereisenbahn, eng beisammen, Kopf an Kopf, auf dem Sitz am Fenster, um das sich der Pionierpark langsam dreht, wie wir meinen, die wir uns nicht bewegen, steif beisammensitzen und regungslos sind, unsere ersten zarten Regungen genießen, Wange an Wange, getarnt als gemeinsames Interesse an dem, woran unsere Liebesbahn vorbeifährt. Die Cousine ist bei uns daheim am Ostseestrand festgehalten, von der Großmutter abgelichtet. Ich stecke in dieser schrecklichen, schwarzen Dreiecksbadehose, eine Nummer zu groß geraten.
Das macht nichts, hat die Adoptionsmutter gesagt, da wächst einer sich rein. Die Badehose kann meinen Hodensack nicht immer richtig bewahren, wenn ich nicht achtsam bin, rutscht er seitlich hervor. Also renne ich nicht wild umher, sondern gehe mit engen Schritten und stehe auf dem Bild seitlich an den Strandkorb gelehnt, so seltsam klemmig, wie mir in der Dreiecksbadehose ist. Im Strandkorb sitzt die Cousine bei der Adoptionsmutter, die einen seltsamen Badeanzug am Leibe hat, ihr Gesicht dem Fotoapparat präsentiert. Auf allen Bildern immer wieder dieses künstliche Lächeln und ihre weißen Zähne, auf die sie stolz war, die sie allen zeigen musste; immer wieder für Fotos aufgesetzt. Ich überwinde der Cousine zuliebe meine Abneigung gegen das Wasser, laufe ihr nach ins Wasser und bin dann auch ein eifriger Taucher, betätige mich als unterseeischer Seesternesucher, hole für sie mehrere Seesterne vom tiefen Grund. Ich treibe mit einem großen Luftring auf dem Wasser. Ein Schlauch, vielleicht von einem Traktor. Mit Füßen und Händen strampel ich, lasse die Wasser schäumen. Auf einem anderen Bild trage ich eine Kofferheule. In der vorpubertären Ära gab es nichts Schöneres als mit der Kofferheule auf der Seebrücke stehen und Eindruck bei den Mädchen schinden. Mein Radio stammt aus Russland, heißt Roter Stern, Sputnik oder sonst was Russisches. Ein äußerst robust gebautes Gerät, mit dem wir die aktuelle Beatmusik dudeln konnten, über Radio Luxemburg auf Mittelwelle gesendet. Ich halte die Kofferheule zwischen Hand und Oberarm an die Hüfte gequetscht. Den schmächtigen Brustkorb halte ich für v-förmig geformt, wenn ich den Bauch einziehe und den Rücken durchdrücke, mit meiner Kofferheule paradiere.
Wir Hänflinge von Jungen bildeten uns mächtig was auf unsere Körper ein, dabei hatten wir noch nicht einmal Haare auf der Brust. Wir gingen wie mit Brennnesseln unter den Achseln angeberisch umher. Die Mädchen gackerten. Die Brücke war unsere Flirtmeile, von der die anderen Jungen ununterbrochen runtersprangen, um den Mädchen zu gefallen; über die Brückenbretter laufen, nahe an die Mädchen im Wasser herantauchen, an ihnen vorbei, die Mädchen streifend und absichtsvoll zur Seite zwingend, dass sie kreischen müssen.
EIN SPÄTENTWICKLER, was die Liebesbelange angeht, eine Null, sitze ich mit einem Mädchen an der Steilküste mucksmäuschenstill, starre bis zur Halsversteifung auf den Horizont, verweile so ach wie bist du schön, den anschließenden Sonnenuntergang zu sehn, der ein anhaltender, zäh ablaufender Ewiguntergang ist. Und zucke nicht. Und muss dauernd daran denken, wie ich mit der Cousine hier sitzen würde. Und frage mich, wie das Mädchen an meiner Seite das alles ohne Halssteife erträgt. Und schließlich erheben wir uns dann. Das heißt, das Mädchen hat von meinem ausdauernden Sitzen und Stieren gehörig die Faxen dicke und stößt mich von sich. Ich höre es herzhaft lachen, kann das Mundinnere des Mädchens einsehen, wie sie zu mir böse Worte sagt. So sehen und gehen sie aus, meine wenigen Versuche, dem anderen Geschlecht wohl zu sein. Ich bin verliebt in das ausdauernde Mädchen und liebe aber auch die ferne Cousine und trolle mich weinend nach Hause, beklage meine unentschiedene Lage, weil es so keinen Menschen für mich gibt, ich nicht einmal die Großmutter zu der Qual befragen kann, so niemandem das Herz ausschütten kann und darüber reden. Und die Adoptionsmutter wedelt mit einem Kuvert, wirft mir den Brief hin, von dem Mädchen geschrieben, das so ausdauernd gewesen ist, mich ausgelacht hat. Das Mädchen hat jeden Buchstaben meines Namens auf dem Umschlag in einer anderen Buntstiftfarbe ausgeführt. Die Briefmarke hat das Mädchen unten links auf den Kopf gestellt aufgeklebt, was in unserer geheimen Sprache so viel wie: du hast mich durcheinandergebracht, heißt. Der Brief an mich ist von der Adoptionsmutter bereits geöffnet worden. Viel im Kopf kann die nicht haben, lästert die Adoptionsmutter. Die Jugend von heute. Sie dagegen habe, wie es sich für junge Mädchen von damals geziemte, eine Ausbildung an der Höheren Töchterschule absolviert. Freilich, höre ich sie hauchen, habe sie es besser als andere Frauen im Ort, einen treu für sie und uns alle sorgenden Mann zur Seite, dem das Wohl der Familie über alles geht, der sein Frauchen umhegt und pflegt, ein Mann, mit dem sie sich im Ort sehen lassen kann. Gell, fragt sie mich mit dem Brieflein in der Hand, wir machen was her, der Vati und ich?
Von der Buntheit der Buchstaben strahlt so viel Wärme auf mich aus, dass ich das Mädchen im Herzen mag, es als meinen Herzschlag in mir wissen will und in das Mädchen mehr verliebt bin als in die Cousine. Die Adoptionsmutter entfaltet den Brief, hält mir den mit rotem Stift behandelten Brief hin; jeder Fehler dick unterstrichen. Es wimmelt am Rand von Frage- und Ausrufezeichen. Falsch, schlecht, schlecht steht dort mehrfach geschrieben, am Ende des Briefes sind Noten wie für ein Diktat aufgeführt. Rechtschreibung/Grammatik: Fünf. Inhalt: Völlig am Thema vorbei. Form: Fünf minus. Den Brief, bestimmt die Adoptionsmutter, schmeiße ich für dich ins Feuer. Ich muss sie gewähren lassen. Sie verbrennt ihn im Küchenofen, der Kochmaschine. Ich soll zusehen, wie sie den Brief verbrennt. Die Großmutter steht hinter mir, ist auf meiner Seite, nur helfen kann sie nicht, so viel weiß ich in dem Moment. Mit der Zeit verliert man die Bindung an Dinge, die wichtig scheinen, sagt sie mir zum Trost, rät, den Brief im Herzen aufzuheben.
Die Großmutter sitzt eines schrecklichen Tages den Tag lang im Lesesessel. Ihr Mund steht offen. Sie schläft, denkt man. Sie ist gestorben. Sie sagt von der einen Minute auf die nächste kein Sterbenswörtchen mehr, liegt teilnahmslos im Sessel. Ich muss mich nahe an sie heranbewegen, ihre Augenlider betrachten, meine Hand an ihren Mund halten, herauszubekommen, ob sich ein Atemlüftchen bewegt. Sie atmet, obwohl sie tot scheint. Sie erhebt sich, obwohl sie leblos scheint. Sie wechselt vom Wohnzimmer in die Küche über, nimmt die auf dem Treppengeländer abgelegte Kittelschürze, bindet sie vor dem Flurspiegel nach Vorschrift um, dass die gestärkten Bänder ihre Hüften steif und glatt umschließen, sich hinterm Rücken kreuzen und vor dem Bauch zur wunderschönen Schleife gebunden den würdigen Abschluss bilden. Sie sitzt auf dem Küchenstuhl. Sie hat die Hände ineinandergefaltet, lehnt den Kopf an die Wand, wenn ich am Küchentisch Schulaufgaben erledige, macht nichts mehr, rührt keinen Finger. Sie wäre nicht mehr bei sich, sagt die Adoptionsmutter, hat Tränen im Gesicht, schämt sich für die eigene Mutter, dass sie alt ist und zusehends abbaut. Die Großmutter ist bei sich, wenn sie nicht bei sich ist, sage ich mir. Braucht keine anderen Leute, ruht in sich, hat aufgehört, sich mit Arbeiten im Haushalt zu zerstreuen, lebt in der Gewissheit des nahen Todes. Wir sträuben uns gegen den Tod, wir dummen Menschen, sagen immerzu ja zum Leben. Dabei regiert der Tod von Geburt an, macht am Ende seinen Schnitt, der Schlaue. Ich stelle mir den Tod als Gerippe vor. Die Großmutter sagt, der Tod wäre eine Frau, eine Mutter, die Leben gibt, Leben nimmt. Im Krieg bin ich so einige Tode gestorben, zum Glück die Tode der anderen, sagt die Großmutter, der fremden Personen, die einsam starben und nicht begraben werden konnten. Über die Todesangst sagt sie, dass ihre Überwindung gleichsam die erste Pforte sei, die es aufzustoßen gilt, wenn man zum Bewusstsein des Todes gelangen wolle. Ich bin ein heranwachsender Junge. Ich gehe in die Schule. Man lernt nicht für die Lehrer, man lernt für das Leben. Man lernt auch für den Tod. Ich beende die Hausaufgaben. Die Großmutter sitzt still und steif auf dem Küchenstuhl. Dann bleibt die Großmutter eines Tages im Wohnzimmersessel sitzen und der Küchenarbeit fern, sieht fern, auch tagsüber, lacht, obwohl es nichts zu lachen gibt. Ich mache die Schularbeiten im Wohnzimmer.
Ich lache immer mit ihr. Das Fehlen der Großmutter in der Küche wird folgenschwer. Die Adoptionsmutter kriegt nichts auf die Reihe. Sie verspätet sich mit den Tagesmahlzeiten. Der Adoptionsvater ist erregt. Ohne die Mutter der Adoptionsmutter geht nichts in der Küche. Der Abwasch stapelt sich. Es bilden sich Schmuddelecken. Es riecht. Den Partygästen fällt auf, dass die Gläser schlecht abgewaschen sind. Der Adoptionsvater wechselt vom Hausessen auf Schulspeisung um, sitzt länger als üblich im Wirtshaus. Es kommt daheim immer häufiger zu vereinzelten Disputen. Die Adoptionsmutter besucht einen Kurs in der Kreisstadt. Die Qualität des Essens wird ein wenig besser, bleibt aber unterm Niveau der Schulspeisung. Die Großmutter sitzt am Wohnzimmertisch und lacht, wenn die Adoptionsmutter fragt, ob das Essen schmeckt. Ich muss der Adoptionsmutter behilflich werden. Ich mühe mich redlich, setze um, was die Großmutter mir beigebracht hat, höre immer mal wieder den verwunderten Ausspruch der Adoptionsmutter: Woher du das weißt. Dass du so etwas kannst. Zusammen kochen wir. Der Adoptionsvater wechselt von Schulspeisung auf Heimessen zurück. Die Adoptionsmutter wirft seltener die Türen, läuft nicht mehr hinunter zum Park, in das schmale Stück Wald vor unserem Haus auf die steile Küste zu, den Groll verrauchen lassen. Die Erde war gestorben, ich lebte allein, die Sonne war verdorben bis auf die Augen dein, du bietest mir zu trinken und blicktest mich nicht an, lässt du die Augen sinken, so ists um mich getan, der Frühling regt die Schwingen, die Erde sehnet sich, sie kann nichts wiederbringen als dich, du Gute, dich. Die Großmutter bezieht wenig später im Haus gegenüber ein Zimmer. Platz für ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, den schmalen Schrank und ihr wunderschönes altes Sofa, feuerrot bezogen. Auf der Kommode stehen das Gestell für die Waschschale und der Krug, den ich jeden Morgen mit frischem Wasser gefüllt zur Großmutter über die Straße trage. Mit dem Weggang der Großmutter übernehme ich deren Arbeiten im Haushalt, verrichte Küchenarbeiten, koche Milch ab, bereite halb weiche Eier für das Frühstück, decke den Tisch. Das Morgentischtuch liegt im Schubfach des Wohnzimmertisches und ist wunderschön. Schneeweiß, extra gestärkt, mit Motiven in tiefblauem Ton bestickt; ein Mann hinter einem Pflug, der die Peitsche schwingt, eine Frau ihm nach, einen Bottich in der Hand, Samen ausstreuend, ein Kind, das seinem Lamm die Flasche gibt; die ländliche Familie in Ultramarin.
Auf die Tischtuchidylle stelle ich Teller, Tassen, Untertassen, lege Bestecke aus, füge die Eierbecher aus Holz hinzu; fürs Brot die Schnittenbretter, für die Brötchen den Korb, Salz und Pfeffer, Süßstoff für den Adoptionsvater. Ist alles hergerichtet, stecke ich den Zeigefinger in das große Glas Pflaumenmus, belohne mich mit der dunklen Köstlichkeit. Das Frühstück der Großmutter schaffe ich auf einem Tragetablett die Straße herüber, vergewissere mich durch das Schlüsselloch, dass sie nicht wieder auf dem Rücken liegt und wie tot ausschaut, die Hände aufs dicke Federbett gelegt, die Nase steif erhoben mich zu Tode erschreckt. Mit ihrem Auszug lebe ich in einem Jugendzimmer. Ich kann die Tür zumachen, mich einschließen, wenn ich will, lange auf der Liege liegen, später dann sogar meine Schallplatten auf den Plattenspieler legen, den Plattenteller drehen lassen, mir nach der A-Seite die B-Seite und wieder die A-Seite anhören. Eine kleine Geige hätt ich gern, alle Tage spielt ich mir zwei, drei Stückchen oder vier und sänge und spränge gar lustig herum, didel, didel dum.
VIELE GÄSTE WÜNSCH ICH heut mir zu meinem Tische, Speisen sind genug bereit, Vögel, Wild und Fische, eingeladen sind sie ja, habens angenommen, Hänschen, geh und sieh dich um, sieh mir, ob sie kommen, lauf und säume nicht, ruf mir neue Gäste, jeder komme, wie er ist, das ist wohl das Beste. Sie begehen ihre Feste nach einem Rundumschlagprinzip, wonach jeder einmal dran ist. Ist die Adoptionsmutter dran, dreht sie auf, will die beste Gastgeberin sein, ist Tage durch den Wind, rechnet aus, was es zu essen gibt, was zu trinken angeschafft werden muss, geht die Namensliste der Gäste durch, beschriftet Aufstellkärtchen mit Namen, legt die Sitzordnung fest, die nicht festzulegen ist, weil immer die gleichen Menschen kommen und jeder von denen seinen Platz kennt, man keinen großen Einkaufszettel braucht, wo immer ein Zeugs geknabbert wird. Ewig die Prozedur. Und warum muss ich mich zu Beginn der geselligen Abende den Leuten zeigen, den Kollegen und deren Frauen die Hand reichen, mich anstarren lassen und gesagt bekommen, wie stattlich gewachsen ich wirke, wie erwachsen ich in die schicken Anziehsachen gesteckt bin, wo sie mich doch allesamt von der Schule her kennen, um die Ecke leben, ein paar Häuser weiter und wir uns auch außerhalb der Schule begegnen. Die Adoptionsmutter bereitet den Tisch für die Gäste vor. Sie deckt den runden Tisch, ein ausziehbarer, in der Mitte Platten, die man aufklappen kann. Die Adoptionsmutter ist den Nachmittag über angespannt, wirbelt im Flur, läuft auf und ab, schafft aus der Küche Teller, Tasse, Löffel, Gläser herbei, drapiert die Utensilien auf die festliche Tafel. Ist die Arbeit getan, steht die Adoptionsmutter hinter der Gardine, zu schauen, wer als erster Gast erscheint. Natürlich kommt der Russischlehrer mit seinem Krückstock zuerst angetanzt. Ein Stock gehört zu ihm, ist sein hackendes Rückgrat und flößt uns Kindern im Dorf Respekt ein. Mit seinem Stock geht der Mann wie auf Jagd gegen alles Störende vor. Blitzschnell wird der Stock in seiner Hand zur Waffe, der Griff packt deinen Hals, wirft dich fast zu Boden, stoppt dich in deinem Lauf. Er scheint mit dem Stock im Wettlauf zu stehen. Im Gesicht die sportliche Verbissenheit. Bein setzt Stock unter Druck. Krückstock hält Holzbein auf Trab. Beide Holzelemente suchen sich immerfort gegenseitig zu beweisen, wer von ihnen aus einem besseren Holz geschnitzt ist. Stock treibt Holzbein an, Holzbein scheucht Stock. Wie leinenzerrenden Hunden ist der Russischlehrer dem Duo aus Stock und Holzbein ausgeliefert; hetzt ihnen nach, lässt sich von den beiden antreiben, anspornen, die ein höllisches Tempo veranstalten, jedem gesunden Zweibeinigen aufzuzeigen, dass einer mit Gebrechen es mit allen Unversehrten aufnehmen kann. In Schieflage wie ein Schiffsmast im Wind steif zur Seite gelegt, stampft der Russischlehrer die Hecke entlang, eilt auf das Haus der Adoptionseltern zu, fliegt die drei Stufen vor dem Haus zur Haustür empor, wirft den Stock gegen die Klingel auf Dauerklingelton. Wenn der Russischlehrer an der Tür zu hören ist, sehe ich mich aufs Zimmer ins Bett geschickt. Der Russischlehrer singt vor der Tür und klopft mit dem Stöcklein an Fensterglas. Wir haben ein Schifflein mit Wein beladen, damit wolln wir nach Engelland fahren, der Wein ist aus der Maßen gut, er macht uns frischen und freien Mut, schenk ein den kühlen Wein, das Haus es soll verschlemmert sein. Er lässt den Stock mehrmals so kurz und heftig gegen die stabile Milchglasscheibe springen, dass die Adoptionsmutter elektrisiert hochfährt und in den Flur ruft: Der wird mir noch die Scheibe zerdeppern. Sie nimmt die steile Treppe in Jungemädchenmanier hinab zur Eingangstür. Der Russischlehrer ruft vor der Tür zur Adoptionsmutter: Das dauert wieder. Ich höre den Russischlehrer mit seinem Stock und Holzbein die Treppenstufen stemmen: Platz da, aus dem Wege. Bring einer eins dem andern rum, dass es von eim zum andern kumm. Lasst uns feiern, lasst uns fahrn, nimmt der Gast Stufe um Stufe der Hausflurtreppe, strebt unaufhaltsam vorwärts, klöppelt mit seinem Krückstock die Treppenstufen ab. Schritt vor, das Holzbein nachgezogen, Schritt vor, den Stock auf die Stufe gedonnert, Bein nach, Schritt vor, Bein aus Holz wieder nachgezogen, dass die Stufen jammern, den Besucher abwerfen wollen. Nicht so stürmisch, du hast alle Zeit der Welt, mahnt die Adoptionsmutter, bietet Hilfe an, als ob der Kerl mit seinem Stock Hilfe brauchte, wie der das Geländer anpackt, dass unter der Wucht seines Griffes die bunt angepinselten Latten aufschreien. Keuchen und Poltern. Heb auf, trinks aus und machs nit lang, singt der frühe Besucher laut, um von den Geräuschen seiner Qual abzulenken. Tu bald Bescheid, uns wird sonst bang. Die Treppe ist steil und eng. Der Mann atmet schwer, lässt Stampfen und Stöhnen ertönen, dass ich in meinem Bett an Ohrfeigen denke, Stufe um Stufe empor aufs Holz geklatscht. Stock auf Bein, Holz auf Stufe. Das Geländer am Wickel, schimpft der Schrat: Deibelnocheins und Mistverdammter. Die Adoptionsmutter spendet Lob: Wiedudasnurmachst, Wiedasbeidirabgeht. Der Russischlehrer, oben angekommen, wirft seinen Hut an den Garderobenhaken, gockelt: Einen Guten Abend der gnädigen Frau, knallt die Hacken wie beim Militär, rattert die Worte in den Raum, feuert Floskeln wie auf einem Schießstand ab, klatscht in die Hände, wenn es dann in die gute Stube geht. Einmal sagt die Großmutter zum Russischlehrer: Was für eine Kraft in beiden Händen. Nicht bloß in den Händen, er habe es auch weiter unten, hat er zur Großmutter gemeint und zu dem bösen Witz gelacht. Seitdem steht die Großmutter nicht mehr zu seiner Begrüßung im Flur, der Anzüglichkeit wegen geht sie ihm aus dem Wege. Bin ich wieder der Erste, fragt er nach der Treppenbezwingung, geht meine Uhr falsch? Pünktlich die Minute vor der Zeit, wie es sich gehört, beruhigt ihn die Adoptionsmutter. Der runde Tisch steht zentral im Raum. Der Gast hockt eingekeilt auf seinem Gestühl. Die Adoptionsmutter gefällt sich in der Rolle der Gastgeberin, bietet dem Gast einen Aperitif an, rückt ihm den Aschenbecher hin, weist auf Kekse und Kuchen, bittet zuzugreifen, fragt nach, ob es an etwas fehle, womit sie sonst noch dienen könne, ob dem Herrn ein Likörchen recht wäre. Ich liege im Bett. Die nächsten Gäste kommen an. Das Schuldirektorenehepaar, sie und er mit viel Getöse die Treppe hoch im Gespräch begriffen. Was du nicht sagst, ja, ist denn das die Möglichkeit. Ihnen nach erscheint der Kunsterzieher, der allgemeinen Wertschätzung nach ein schräger Vogel, Künstler im Dorf. Das Fest hebt an. Die Stimmen gewinnen an Kraft. Die Frauen werden langsam schrill. Es wird viel zu laut und immer kreischender gelacht. Anfangs zischt die Adoptionsmutter: Das Kind, denkt bitte an das Kind. Dann sind Witze dran, und sie selber brüllt auf Kommando los und wiehert. Die Frau des Russischlehrers hat wieder nicht verstanden, fragt nach, wo da der Witz läge, wird heftig ausgelacht; zwecklos, unter dem Dauerbeschuss der Lachsalven Schlaf finden zu wollen, wenn die Männer Ein Prosit auf die Gemütlichkeit anstimmen, die Adoptionsmutter zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her läuft und in loser Folge vom Flur aus ins Wohnzimmer ruft, wie viel Kaffeewasser sie aufsetzen soll, zur Küche und in den Festraum zurück eilt, am Herd tätig wird, die Kaffeekanne ins Wohnzimmer trägt, dort angekommen feststellt, dass Zucker fehlt, nach einem Lappen rennt, weil Milch verschüttet worden ist, ein Glas zu Bruch geht, mit Handfeger und Schaufel klappert. Zuerst wird der Frau vom Russischlehrer schlecht und sie besetzt das Klo, will sich erbrechen, kann nicht, beendet die Versuche, kehrt in den Festsaal zurück, bleich wie die Wand, wie die Adoptionsmutter kichert. Die Frau des Schuldirektoren wird unvorsichtig, Wein schwappt. Der Reinigungseimer wird zum Einsatz gebracht. Die Spülung im Klo ist im Dauerbetrieb. Drinnen bricht ein Stuhl zusammen, dass es kracht. Der Russischlehrer ist besoffen und muss festgehalten werden, will nach Hause, reißt alles um, beschimpft seine Frau, will Reißaus nehmen, nie wieder kommen. Stürmt in den Flur, ist die Treppe halb hinunter und zur Wohnung hinaus, pocht von vor der Tür gegen das Glas, schreit nach seiner Frau, die nicht mit ihm nach Hause gehen soll, wie die Frau des Schuldirektoren warnt; und dann sputet sie gegen alle Vorsicht als gute Frau dem Mann hinterdrein. Ein Hennlein weiß, mit ganzem Fleiß, sucht seine Speis bei ihrem Hahn und hub zu gackern an, poltert der Russischlehrer ihr vorauseilend die Dorfstraße entlang, ka ka ka ka ka ka nei ka ka nei, das Hennlein legt ein Ei. Der Russischlehrer dreht um, geht ohne sich um ihr Gezeter zu kümmern wieder aufs Festhaus zu, erklimmt die steile Treppe wieder, donnert im Flur: Habt ihr Luder etwa gedacht, ihr wäret mich los. Ist unterm Jubel der Gäste wieder Teil der Festrunde. Trinkt Schnaps. Ruft ein dreifaches Zickzack. Her mit der Bowle, dem Schnaps. Die Frau des Schuldirektors rennt der Frau des Russischlehrers hinterher. Das kann man doch nicht machen, das gehört sich nicht, tönt sie im Flur, kommt mit der Frau des Russischlehrers zurück. Und weiter geht die Party. Bis morgen früh ja früh. Die Männer sind laut. Die Frauen kreischen. Die Frau Schuldirektor will sich dann doch noch auf dem Tisch entkleiden. Die Frau des Russischlehrers heult und schimpft ihren Mann einen Mistkerl, auf der Treppe sitzend, gegen den Mann wütend, wird sie von der Frau Schuldirektorin und der Adoptionsmutter wechselseitig getröstet und beschworen. Der Russischlehrer hetzt von drinnen: Geht doch, macht euch alle fort. Die Adoptionsmutter bringt die Frau des Russischlehrers ins Feierzimmer zurück. Es kommt zur Versöhnung zwischen ihm und ihr. Dann werden Stimmungslieder angestimmt. Gesänge, die in etwa ausdrücken, dass keiner gehen soll, wenn es am schönsten ist, sie alle blieben, bis der Morgen tage, die Morgensonne lache, die Krise überstanden sei. Die Toilettenbrille klatscht. Der Spülhahn faucht ununterbrochen. Das Fest geht weiter. Türen quieken. Zum Ende hin sind alle sternhagelsturzbetrunken und von der Adoptionsmutter auf den Heimweg gebracht. Der Adoptionsvater schnarcht im Fernsehsessel, schläft den Räuberschlaf, fabriziert im Schlaf Schmatzgeräusche. Ab ins Bett mit dir, scheucht ihn die Adoptionsmutter hoch, bekommt zum Dank das übliche Knurren und Murren als Antwort, das mir ein Ende signalisiert.
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