Читать интересную книгу Rabenliebe - Peter Wawerzinek

Шрифт:

-
+

Интервал:

-
+

Закладка:

Сделать
1 ... 10 11 12 13 14 15 16 17 18 ... 53

MIR TRÄUMT, ich sitze in einem Bus. Die Tür schließt. Der Bus fährt an. Ich sitze der Mutter zur Seite. Der Bus ist angefüllt mit Freunden, Weggefährten, Erziehern. In Gruppe versammelt, stehen an der Bushaltestelle Leute, die mir gewogen sind. Die Gruppe wird zunehmend kleiner, bis sie aus den Augen gerät. Ich erwache. Ich erfahre nie das Ziel der Reise. Es geht nicht weiter mit dem Traum. Ich bin kein Flüchtling. Ich bin aus keinen Heimen ausgebrochen. Die Menschen und das Land, in dem ich von Kindesbeinen an gelebt habe, sie sind mir fremd geworden, als wäre das alles nicht wahr. Meine Spielkameraden, müde und alt sind sie, bebaut ist das Feld, gerodet der Wald. Ich kann Euch nicht sagen, was geschah, nur, dass man Herren und Damen, dazu edle Ritter den Tod ihrer lieben Freunde beweinen sah. Das ist das Ende des Liedes. Das ist die Not der Nibelungen.

Die Polizei sucht nach der Mutter, die am Donnerstag in Nordhausen ihr Baby ausgesetzt hat. Der nur wenige Tage alte Junge war am späten Donnerstagnachmittag im Treppenhaus eines Wohnblocks gefunden worden. Nach bisherigen Ermittlungen hatte der oder die Unbekannte am Donnerstagnachmittag in dem Haus geklingelt. Die Tür sei von oben geöffnet worden. Allerdings ging nach bisherigen Erkenntnissen keiner der Bewohner ins Treppenhaus. Das Baby sei dann von einer Frau gefunden worden, die vom Einkaufen gekommen war. Bewohner alarmierten den Notarzt, der das Baby ins Krankenhaus brachte. Der drei bis sieben Tage alte Junge sei nach ersten Untersuchungen gesund. Die Polizei in Nordhausen sucht nach Zeugen, denen eine Frau aufgefallen ist, die eine Tasche, ein Bündel oder ein Päckchen bei sich hatte. Staatsanwaltschaft und Polizei sind inzwischen nach Absprache übereingekommen, das eingeleitete Ermittlungsverfahren einzustellen. Eine Straftat wäre an eine Gefahr für das Kind gebunden, sagte ein Sprecher am Freitag. Die war in diesem Fall nicht gegeben. Das Baby war zu keiner Zeit in ernsthafter Gefahr, da das Haus zu dieser Zeit stark frequentiert war und das Baby schnell gefunden wurde. Darauf sei die Tat auch ausgerichtet gewesen. Der Täter oder die Täterin habe offenbar gewollt und dafür gesorgt, dass das Kind in dem Mehrfamilienhaus schnell gefunden wurde. Damit ist die Situation ähnlich wie beim nicht strafbaren Ablegen eines Kindes in einer sogenannten Babyklappe. Das Jugendamt will jetzt die Vormundschaft über den Jungen übernehmen. Problematisch könnte es nur werden, wenn die Mutter später ihr Kind wiederhaben möchte. Rechtlich bestehe dafür jetzt kein Anspruch mehr.

ICH BIN EIN BRAVES KIND mit soliden Sommersprossen im Gesicht. Ich ziehe mir Verletzungen zu. Schrammen, Beulen, blaue Flecken. Ich werde nicht besucht. Ich kenne keinerlei tränenreiche Bedrückung. Wenn Besuch anlangt, bleibe ich auf dem Spielplatz hinterm Haus, am Klettergerüst. Du hörst auf, gleich den anderen Kindern zu rennen, wenn Fremde anlangen, sich an die Fremden zu drücken, den Kopf an raue Mäntel zu legen, nach Händen zu fassen in Leder gesteckt.

Mit bettelnden Augen, die Nimm uns mit, wir wollen hier nicht länger sein sagen. Schicksal meint, allein sein in der Gruppe und Strenge zu ertragen. Wir krempeln unsere Hosentaschen um. Die Inhalte fallen auf den Boden. Man fragt nicht nach einem Warum. Auf Befehl wird aufgestanden, getrottet, sich die Hände gewaschen, die Zähne ein weiteres Mal geputzt, inmitten des Raumes auf den Stuhl gestiegen, die Knie fest beisammen, die Hände artig auf die Oberschenkel gelegt, kerzengerade mit durchgedrücktem Rücken die Nase zum Fenster hin, bis man dich von der Übung befreit. Man kommt ohne Zärtlichkeit aus, wie auch ohne Taschengeld. Ich schreibe jetzt nur noch für Heinz. Seit Tegen Dort ist, schreibe ich meine netten Zeilen nur noch der Bianca zugedacht, die dieser schmeicheln, weswegen sie den Heinz mit anderen Augen sieht, ihm zur Seite sitzt, wodurch Heinz sozusagen schwebend wird. Zum Dank haut Heinz jedem, der im Ansatz wagt, gegen mich was zu haben, prophylaktisch im Voraus eins auf die Fresse.

Der Blick geht ins Leere. Wie in Trance sitzt die Gorilla-Mama Gana im Käfig, das tote Baby Claudio (13 Monate) liegt wie eine Puppe in den mächtigen Händen. Bewegende Szenen am Affenhaus des Zoos in Münster. Viele Zoobesucher reagieren geschockt. Eltern müssen ihren Kindern erklären, was passiert ist. Der Zoo hat Hinweisschilder mit einer Erklärung vor dem Gehege aufgestellt. Wir wollen den Besuchern die Natur zeigen, wie sie ist, sagt der Zoobiologe. Der Prozess des Abschiednehmens ist wichtig. Wir wollen die sozialen Vorgänge nicht unterbrechen. Zwei Jahre zuvor hatte sich Gana aus Eifersucht immer wieder mit Gorilla-Dame Changa, die im gleichen Gehege lebt, um deren Baby gestritten. Das Affenmädchen wurde von Gana erst schwer verletzt, wenige Monate später sogar getötet. Nachdem Gana dann vor einem Jahr ihr erstes Kind Mary Zwo auf die Welt gebracht hatte, vernachlässigte sie ihre Tochter, das Affenmädchen musste von Kinderärzten gerettet werden. Ob Affen-Mama Gana schuld am Tod ihres Jungen Claudio ist, muss nun untersucht werden, die Todesursache ist noch unklar. Genaueres wissen wir erst, wenn Gana von ihm ablässt und wir ihn obduziert haben, gibt der Zoobiologe den Medien bekannt.

Es KANN JA NICHT immer so bleiben hier unter dem wechselnden Mond, es blüht eine Zeit und verschwindet, was mit uns die Erde bewohnt, es haben viel fröhliche Menschen lang vor uns gelebt und gelacht, den Ruhenden unter dem Grabe sei freundlich ein Becher gebracht, es werden viel fröhliche Menschen lang nach uns des Lebens sich freun, wir sitzen so fröhlich beisammen und haben uns alle so lieb, wir heitern einander das Leben auf, ach, wenn es doch immer so blieb, und weil es nicht immer kann bleiben, so haltet die Freude recht fest, wer weiß denn, wie bald uns zerstreuet das Schicksal nach Ost und West, und alle, ja alle wirds freuen, wenn einem was Gutes geschah, und kommen wir wieder zusammen auf wechselnder Lebensbahn, so knüpfen ans fröhliche Ende den fröhlichen Anfang wir an.

Jede Mahlzeit im Heim ist wichtig. Die armen Waisen müssen den Wegfall der familiären Umgebung und Geborgenheit durch Essen und Trinken kompensieren, so die Kinderlein alle keinen psychischen Mangel erleiden. Mit knurrendem Magen ins Bett zu müssen, ist die größte aller Strafen. Da wird dir kein Teller zurechtgemacht und aufs Zimmer gebracht. Fastenabend ist hier, in den Gaumen Saft, in den Mund den Speck, kriege ich was zu fassen, lauf ich damit weg, da oben in der Ferschte, da hängen die langen Bratwerschte, den längre Zippel gebt mir, den kürzeste behaltet ihr, schneid dir und mir und säbelt euch bloß nicht in den Daumen. Ich erinnere Rosenkohl, den ich als Kind nicht schlucken konnte. Und doch soll ich ihn essen. Ich esse Rosenkohl, ohne Rosenkohl zu schlucken, bis mir die vielen Rosenkohlstücke in den Mund hinein die Wangen zum Platzen dehnen, die Wangen zu beiden Seiten nahezu durchsichtig sind, kein Rosenkohl mehr in den Rachen zu zwängen geht. Ich spucke nicht. Ich schlucke nicht. Die Erzieherinnen überbieten sich. Ich soll die unzerkauten Rosenkohlknöllchen runterwürgen. Ich reagiere nicht auf die lauten Befehle und stehe in heilig kindlicher Sturheit an der großen Essenstafel, den Rücken durchgedrückt, in Widerstand und Auflehnung begriffen, zur Strafe bereit, die mir auferlegt wird. Sie lassen mich am Tisch stehen: bis der Mund leer ist. Die Reihe kam jetzt an den dritten Sohn, der wollte seine Sache gut machen, suchte Buschwerk mit dem schönsten Laube aus, ließ die Ziege daran fressen. Abends, als er heimwollte, fragte er: Ziege, bist du auch satt? Die Ziege antwortete: Ich bin so satt, ich mag kein Blatt, mäh. So komm nach Haus, sagte der Junge, führte sie in den Stall und band sie fest. Nun, sagte der alte Schneider, hat die Ziege ihr gehöriges Futter bekommen? Oh, antwortete der Sohn, die ist so satt, die mag kein Blatt. Der Schneider traute ihm nicht, ging hinab und fragte die Ziege: Bist du auch satt? Das boshafte Tier antwortete: Wovon sollt ich satt sein, ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Blättelein, mäh, mäh. Oh, die Lügenbrut soll mich nicht länger zum Narren halten, schlug den armen Jungen mit der Elle so gewaltig, dass dieser zum Haus hinaussprang und der alte Schneider nun mit seiner Ziege allein war, am andern Morgen hinab in den Stall ging, die Ziege liebkoste und zu ihr sprach: Komm, liebes Tierlein, ich will dich zur Weide führen. Er brachte sie zu grünen Hecken und unter Schafrippe, was Ziegen gerne fressen. Hier wirst du dich nach Herzenslust sättigen. Sprach es, ließ sie weiden bis zum Abend und fragte sie: Ziege, bist du satt? Sie antwortete: Bin so satt, mag kein Blatt, mäh. Darauf führte er sie in den Stall, band sie fest, sagte mehr, als dass er fragte, im Weggehen: Da bist du mir doch jetzt einmal satt. Die Ziege machte es ihm nicht besser als seinen drei Söhnen zuvor und rief: Wie sollt ich satt sein, sprang nur über Gräbelein, fand kein einzig Blättelein, mäh. In einer Hast sprang er hinauf, holte sein Bartmesser, seifte der Ziege den Kopf ein, schor sie so glatt wie seine flache Hand. Und weil die Elle zu ehrenvoll gewesen wäre, holte er die Peitsche und versetzte ihr solche Hiebe, dass sie in gewaltigen Sprüngen auf und davon lief. So stehe ich mit vollem Mund, bis die nächste Mahlzeit ansteht und sie die Nerven verlieren, mich packen, und über mich gebeugt versuchen, meinen Mund zu öffnen, die Wangen zu quetschen, mir die Wangenbäuche boxen, mit ihren Kneifhänden Gewalt antun, worauf sich der zugeschweißte Mund aufsperrt, sie mich mit Essensentzug bestrafen, zum sturen Kind stempeln, mit dem nicht geredet werden darf. So habe auch ich am Essenstisch des Öfteren stumm und still zu stehen; die Handinnenflächen auf den Tisch gelegt, die Brust vor, den Bauch eingezogen.

Im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen und im saarländischen Freisen sind am Wochenende zwei Babys ausgesetzt worden, draußen in der Kälte. Die Mutter des Kindes aus dem Saarland offenbarte sich am Sonntag einem Bekannten, der darauf die Polizei verständigte. Von der anderen Frau fehle jedoch jede Spur, teilten die Behörden mit. Ein Spaziergänger hatte in Freisen bei Sankt Wedel bereits am Freitagabend ein nur wenige Tage altes Mädchen an einem Hauseingang gefunden. Das Baby war in eine Vliesdecke gewickelt und trug einen Strampelanzug, bei dem es sich laut Polizei vermutlich um Puppenkleidung handelt. Es wurde in ein Krankenhaus gebracht. Vor der Polizei gab die Mutter am Sonntag an, sie habe sich durch das Kind überfordert gefühlt. Ein ebenfalls nur wenige Tage alter Säugling wurde am Samstagnachmittag vor einer Kurklinik in Bad Oeynhausen ausgesetzt. Eine 21-jährige Auszubildende fand das kleine Mädchen am Samstagnachmittag in einer Kinderwippe warm angezogen und in eine Decke gewickelt an der Kurklinik Bad Oexen, wie die Polizei mitteilte. Als niemand erschien, brachte sie das schlafende Baby in die Klinik. Nach Angaben der Polizei ist das Kind gesund, gepflegt und erst wenige Tage alt. Offensichtlich wurde der Säugling nach der Geburt fachgerecht versorgt. Nach dem Täter wird gefahndet.»Wir gehen derzeit davon aus, dass derjenige wollte, dass das Baby sehr schnell gefunden wird«, erklärte ein Polizeisprecher. Das Baby wird in einem Krankenhaus in Minden versorgt. Die Ermittler riefen die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Besonders interessant seien die Fahrer eines roten VW Golf und eines größeren dunklen Wagens, die zur Auffindezeit auf dem Parkplatz bemerkt worden seien. Wer ein Kind aussetzt und dabei in Gefahr bringt, kann laut Gesetz mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. In Deutschland gibt es aber flächendeckend Babyklappen in Kliniken, wo Babys anonym abgegeben werden können. In diesem Falle werden die Eltern nicht strafrechtlich belangt. Erst Mitte Januar wurde ein neugeborenes Baby in der Nähe von Flensburg in einem Kälberstall ausgesetzt. Das Kind war angezogen, lag in einer Stofftasche und wurde unterkühlt in ein Krankenhaus gebracht.

DER HERR HEIMLEITER hat vor dem Schulkinderheim einen Rasen angelegt. Ein Prachtstück, das Grüne Geviert genannt. Wieder und wieder durchblättere ich die armseligen Erinnerungen, stelle mir die Frage, ob es so unwürdig zuging im Heim, ob uns nicht unbändiges Verlangen gestachelt haben sollte, gegen die Behandlung aufzubegehren. Mitnichten. Es ist davon auszugehen, dass wir viel demütiger gehorcht haben und bestrebt gewesen sind, beste Leistungen zu bringen. Wir sind rund um die Uhr am Rasen im Einsatz. Wir haben den Weg um den Rasen von Asten, Blattzeug, Papier und sonstigem Unrat frei zu halten. Der Rasen ist entlang der Kante wie nasses Haar zu einer Frisur zu harken. Die Harke ist der Kamm, der kämmt. Wir haben die Rasengrünfläche samten zu halten, fordert der Herr Heimleiter, meint damit, wir sollen ihm seinen Rasen kurz scheren. Der Herr Heimleiter findet samten als Wort für sein Grünes Geviert passender. Wir müssen mit der Heckenschere auf einem Übungsrasen hinterm Haus nahe dem Klettergerüst Vorführung unserer Kunstfertigkeit an der Heckenschere halten. Heinz kann mit der Heckenschere besser als wir hantieren. Auf allen vieren robbt Heinz Bahn um Bahn bis zur Kante über den Rasen, ist wie ein Friseur am großen Schnippeln, die Zunge ausgestreckt, die Augenbrauen angehoben, voller Konzentration bei der Arbeit, zu der der Herr Heimleiter lobend Spitzenleistung und Alleachtung sagt. Der Rasen wird morgens und abends mit Wasser versorgt. Mädchen können besser mit der Gießkanne umgehen. Mädchen bringen mehr an Geduld auf, schreiten mit ihren Kannen die Fläche säuberlicher ab, verteilen die Wassereinheiten gerechter über die Gesamtfläche. Roswitha ist von den guten Mädchen die allerbeste Gießerin. Und Äugele hot se in ihrem Kopf, grad wie von Weitem zwei Stern, wie der Karfunkel im Ofe glitzt, wie na Licht in der Latern.

Der Herr Heimleiter steht vor seinem Grünen Geviert; in die Hände klatschend, sich die Handinnenflächen reibend; lobt den schönen Rasen mein, obwohl ihm nichts gehört vom Heim, die Treppe vor dem Eingang des Heimes, die hohen Birken, die Tischtennisplatte nicht, kein Tisch, Bein, Bett, Stuhl, alles und auch der Rasen ihm vom Staat nur zur Obhut überlassen ist. Das Heim mit all seinem Inventar, Personal und uns mitgezählt, sagt er, wären niemandes Eigentum. Der Herr Heimleiter sagt zudem sehr oft die Worte: Gottgewollt und Lieberherrimhimmelreich. Das dürfe er als sozialistischer Vertreter nicht, er dürfe nie im Leben Gott zu einem Ding sagen, weil ihm das verboten sei. Es gäbe keinen Besitz, kein Mein, wo alles Volksbesitz ist, der grüne Rasen allen zu gleichen Teilen gehört. Wir dürfen den Rasen nicht betreten. Wenn zum Beispiel ein fehlgeschlagener, vom Wind erfasster Federball sich auf die Rasenfläche gesenkt hat, ist in jedem Fall der Hausmeister zu benachrichtigen, der mit der langen Stange herbeieilt, mit der Greifzange, vorne am Stock angebracht, den Federball greift, den Federball uns nicht übergibt, ihn einbehält und damit das Federballspiel beendet.

Stein um Stein müssen wir die Kante monatlich einmal aus der Fassung nehmen, säubern und wieder neu einfügen. Steine vom Ostseestrand aufgelesen. Alle ein Maß, eine Form, eine Größe, ein Gewicht, werden sie von uns herausgenommen, gereinigt, blank geschrubbt, mit weißer Farbe bestrichen. Das Tünchen der Steine ist eine mühselige, undankbare Sonderarbeit, die der Herr Heimleiter persönlich beaufsichtigt. Der Stein wird aus der Rasenrandreihe genommen und von seiner Altfarbe befreit. Der gesäuberte Stein darf keine alten Farbspurenelemente aufweisen. Finden sich alte Farbpartikel, ist das Kind ein Kind, das Schaden angerichtet hat, die Ordnung stört, die Steine mit Finger und Nagel fix und fertig zu reinigen hat. Schaut alle her, fordert der Herr Direktor, setzt den Stein an die Hand des Kindes, bringt den Fingernagel der Kinderhand an den Farbrest, kratzt ihn mit dem Fingernagel des Kindes fort; fordert von allen anderen Kindern, sich bei der Arbeit nicht so zu haben, die Fingernägel zu benutzen, die nachwachsen. Die Steine werden mit einem matten Weiß vorgestrichen. Die Führung des Pinsels hat sich an den Stein anzupassen. Jeder Stein hat eine eigene äußere Struktur, weiß der Herr Heimleiter, die als Maserung ihren sichtbaren Ausdruck fände, wie auf unseren Köpfen die kurzen Haare Stoppel und Wellen, Wirbel und Lücken bilden. Ganz so wären die Steine auch beschaffen und mit dem Pinsel so zu behandeln, dass die maßgebliche Strichrichtung erhalten würde, uns beim Streichen der Steine lenke. Den Pinsel in Farbe eintauchen, mit ihm kreuz und quer den Stein einkleistern, ist uns strengstens verboten. Der Anstrich hat bis in die Ausstülpung, Erhebung und Senke am Stein zu verlaufen und soll grundsätzlich im Uhrzeigersinn aufgetragen sein. Auf dass ein jedes Kind sich der hohen Philosophie gegenüber beuge, wohnt der Herr Heimleiter dem Pinselakt bei, beobachtet seine Pinselführer, rückt uns auf die Pelle, beschimpft uns, spart nicht an Tadel und Lob, wie ihm gerade ist; und kann nicht verhindern, dass ihm im Groll die Hand ausrutscht, er den Falschmaler mit Kopfnüssen beschenkt, dessen Pinsel nimmt, ihn zerbricht, im schlimmeren Fall den Handballen des Frevlers drückt, dass seine Fingerknochen knacken. Ist der Herr Heimleiter in Rage, geht er auf und ab, stoppt alle Arbeiten, lässt uns antreten, schreitet die gesamte Malerriege ab, schwingt sich zum Donnerwetter auf, brüllt, dass er ein gerechter Mann sein will, solange ihm der Kragen nicht platzt, man ihn nicht reizt und nicht in Rage bringt. Mit ihm sei gut Kirschessen, er fahre mit jedem Einzelnen von uns Schlitten, wie es sich gehört, aber er könne auch zum Löwen werden; wenn jeder das erledige, was ihm aufgetragen, herrsche wundervolle Harmonie und Einigkeit. Steht zu den Worten, wie der Seemann auf wankenden Planken steht. Wippt den Oberkörper zu jedem Wort, als wäre er von Windstößen heimgesucht. Bläht seine Wangen, wie Segel sich blähen. Schiebt das linke Bein vor, vollführt hospitalistisch anmutende Hin-und-her-Bewegungen, die Hände hinterm Rücken fest ineinandergefügt; lässt den Oberkörper vor und zurück schnellen, schaukelt sich wie der Hoch- oder Weitspringer, als stünde er vor dem alles entscheidenden Sprung. Mir ist das Wort Heimtücke in diesem Zusammenhang in Erinnerung und Speichel am Mund des Herrn Heimleiters, er zischt uns an; und dass er gut zu uns sei, wenn er sich nicht aufregen müsse; und er kein Erbarmen kenne, keine Ausnahme mache, sich den Missetäter zur Brust nehmen werde. Geht das nicht in eure Schädel? Ist das denn nicht zu verstehen, ihr Vermasselten. Wir kuschen und fügen uns ein. Wir bereiten die Steine wie von ihm verlangt, setzen sie an ihre Ausgangsplätze zurück. Stehen sie in Reih und Glied, nimmt der Herr Heimleiter die Rasenparade ab. Zu allen Gegenständen im Heim hat der Herr Heimleiter ein besonderes Verhältnis. Möbel sind bei ihm nicht Möbel. Für ihn sind ihre Lehnen, Polster, Möbelbeine just für einen einzigen Zweck erdacht und installiert worden, dem Menschen zu dienen, schön zu sein, gut erhalten und von Attacken verschont zu bleiben. In keinen Sessel darf sich einer nach Lust und Laune wuchten, die Beine über die Lehne stülpen, im Schneidersitz hocken, gar auf der Sitzfläche stehen und hopsen. Weil Möbel nicht aufschreien, Schranktüren nicht weinen, Schubladen nicht klagen und jammern, ist die Fußbank nur mit den Füßen, nicht mit dem Hintern als Sitzfläche zu nutzen. Es schickt sich nicht, die Schranktür zu donnern, die Blumenvasen ohne Untersetzer auf das blanke Tischholz zu stellen. Da haut es den Herrn Heimleiter um. Da verschlägt es ihm die Sprache. Da muss hart durchgegriffen, schonungslos vorgegangen werden; aus Respekt vor der Handwerksarbeit, wider die Überheblichkeit und Impertinenz. Wer sich an der scheinbar leblosen Welt vergangen hat, hat zum Stuhl zu gehen, ihn freundlich anzusprechen, sich bei einem Tisch zu entschuldigen, ihm nach der Entschuldigung einen Guten Tag zu wünschen. Auf den groben Klotz gehört ein gröberer Hammer. Die gezielte Maßnahme ist besser als der zurechtweisende Satz. Der Bösewicht soll auswendig lernen. Der auf Abwege geratene Zögling soll die Hausordnung kennen, einzelne Teile aufs Wort hersagen. Die Hausordnung ist wichtiger als eine Schulfibel. Es habe noch keinem geschadet, für das Gemeinwohl faule Kartoffeln aus der Kellerhalde zu klauben, zu lernen, was aussortiert gehört, was nicht nach der Norm ist, sich nicht in die Gemeinschaft einpassen will. Das gesamte Heim hat auf dem Hof anzutreten. Alle müssen wir zur Strafe stehen, bis sich der Schuldige freiwillig meldet, den Dienst in der Küche, die Arbeit im Kartoffelkeller anzutreten. Je rascher sich der Schuldige bekennt, umso schneller ist das Strammstehen um, der Rest darf ins Heim zurück, auf die Zimmer, die Sachen auf den Millimeter geordnet stapeln, bis der Herr Heimleiter zur Kontrolle aufs Zimmer kommt.

1 ... 10 11 12 13 14 15 16 17 18 ... 53
На этом сайте Вы можете читать книги онлайн бесплатно русская версия Rabenliebe - Peter Wawerzinek.
Книги, аналогичгные Rabenliebe - Peter Wawerzinek

Оставить комментарий